Land in der Krise:Italien und der deutsche Hohn

Rom

Das Forum Romanum, im Hintergrund der Capitolshügel mit dem Nationaldenkmal für Viktor Emanuel II.

(Foto: Regina Schmeken)

Zerstört sich Italien gerade selbst? Aus deutscher Perspektive sieht das für viele so aus. Doch nicht für die Italiener.

Von Thomas Steinfeld

Dass es ein Europa der Verlierer gibt, ist spätestens seit Beginn der sogenannten Finanzkrise offenbar, also seit etwa zehn Jahren. Seit dieser Zeit wächst der Reichtum der Staaten, die in der gemeinsamen europäischen Währung zusammengeschlossen sind, nur noch wenig, verglichen jedenfalls mit China oder den Vereinigten Staaten. Das schien vorher anders gewesen zu sein: Solange es insgesamt ein nennenswertes Wachstum gegeben hatte, hatte ein jeder Staat in der Gemeinschaft wachsen können, manche mehr, andere weniger.

Seitdem aber kaum noch etwas wächst, kann nur noch gewinnen, wer es auf Kosten anderer tut. Verlierer und Gewinner treten erkennbar auseinander, und sie tun es umso deutlicher, je strikter die einen wie die anderen auf dieselben Regeln des Wettbewerbs verpflichtet sind. Wenn dann eine Nation immer zu den Verlierern gehört, Jahr um Jahr: Wie groß kann dann die Überraschung sein, wenn sich dieses Land nicht mehr auf die Regeln festlegen lassen will - oder sogar davon träumt, den Wettbewerb zu verlassen? In dieser Lage befindet sich, seit den jüngsten Wahlen, die drittgrößte Volkswirtschaft in der Währungsunion: Italien.

Das Land habe "zehn Jahre Wettbewerbsfähigkeit" vernachlässigt, behauptete jüngst Hans-Werner Sinn, einer der bekanntesten deutschen Wirtschaftswissenschaftler. Aus Italien betrachtet, sehen die Gründe für das Scheitern anders aus. Denn dort stellt sich die Geschichte des Landes nach dem Zweiten Weltkrieg als eine Kette großer Anstrengungen dar, eben jene Fähigkeit zum Wettbewerb - die sich an den Erfolgen der Länder im Norden und vor allem an denen Deutschlands misst - zu erwerben. Diese Geschichte begann mit der Bildung gewaltiger staatlicher Konzerne in den Schlüsselindustrien (Stahl, Chemie, Energie, ein Erbe der faschistischen Wirtschaftspolitik) und der massiven Förderung des armen, landwirtschaftlich geprägten Südens nach dem Zweiten Weltkrieg. Italien, so viel war nicht nur im eigenen Land klar, sollte zu den großen Industrienationen der Welt gehören.

Ein wüstes Durcheinander aus Enttäuschung, Betrugsvorwürfen und Rassismus

Diese Geschichte führte schließlich zur Teilhabe an der Gemeinschaftswährung, die, von Italien gewollt und vorangetrieben, das entscheidende Mittel hätte werden sollen, um alle vorausgegangenen Nachteile im Wettbewerb auszugleichen: dadurch, dass Italien Zugang zur Kreditwürdigkeit der ganzen Gemeinschaft erhielt, zu niedrigen Zinsen, in einem Umfang, wie sie dem Land für sich allein nie gewährt worden wären. 70 Jahre hatte der Wille zur Behauptung als große, international erfolgreiche Nation Bestand. Jetzt ist er zumindest infrage gestellt, in einem wüsten Durcheinander aus Enttäuschung, Betrugsvorwürfen und Rassismus.

Die Geschichte der immer wieder von neuem begonnenen Versuche der Nation, einen über die Grenzen hinweg geführten Wettbewerb für sich zu entscheiden, lässt sich an der italienischen Landschaft ablesen, anhand von Industrieruinen. Die Petrochemie in Marghera, das Stahlwerk in Tarent, die Raffinerien von Brindisi: Sie alle (und etliche ähnliche Anlagen) sind Monumente gigantischer, aber mehr oder minder gescheiterter Bemühungen, unter staatlicher Aufsicht Industriebetriebe entstehen zu lassen, die es nach Größe und Leistungsfähigkeit mit Thyssen oder Krupp, mit Usinor oder British Steel aufnehmen könnten. Viele dieser Fabriken wurden, um der wirtschaftspolitisch unerträglichen Differenz zwischen dem Norden und Süden Italiens entgegenzuwirken, im wenig produktiven Süden angesiedelt.

Dass diese Pläne nicht aufgingen, dass vielmehr der italienische Staat die Konzerne weiterbetrieb, ließ in den Sechzigern und Siebzigern das Fundament einer Staatsschuld entstehen, die dann später, von den frühen Achtzigern an, eskalierte. Und als die Betriebe schließlich zerschlagen und zu großen Teilen privatisiert wurden, als die Subventionierung des Südens eingestellt wurde und die Zentralregierung einen großen Teil ihrer Verbindlichkeiten an die Regionen und Kommunen weitergab, da wurde nicht nur rationalisiert, sondern zugleich eine Infrastruktur zerstört, die noch funktioniert hatte, wie schlecht auch immer. Die Ruinen gelten nun als Belege einer typisch italienischen Misswirtschaft, während sie eigentlich etwas anderes sind: Projektionen einer Zukunft, die sich nicht einstellte.

Die jüngste Anstrengung, im Wettbewerb mit den reichen Ländern des Nordens zu bestehen, die Teilhabe am Euro also, scheint sich nun als der letzte Versuch zu erweisen, in der Konkurrenz der großen Nationen zu überleben: Der Zugang zum gemeinsamen Kredit zog die Verpflichtung auf einen Wettbewerb zu gleichen Bedingungen nach sich - während der Ballast der vergangenen Jahrzehnte, die Staatsschuld, immer noch gegenwärtig war. Das Land hätte mit dem neuen Geld von Grund auf renoviert werden sollen. Das Gegenteil trat ein: Im unmittelbaren Vergleich der Produktivkräfte setzte sich das überlegene Kapital durch. "Der europäische Ordoliberalismus", sagt dazu der Volkswirtschaftler Sergio Cesaratto von der Universität Siena, sei eine "Form des Nationalismus der dominierenden wirtschaftlichen Macht" (Sergio Cesaratto: Chi non rispetta le regole? Imprimatur Editore. Reggio Emilia, April 2018) - so wird in Italien wahrgenommen, was in Deutschland als spezifisch italienische Unfähigkeit gilt.

So kam der Grundwiderspruch der Europäischen Union zur vollen Entfaltung: dass sich zwei Dutzend gegeneinander konkurrierende Staaten zusammengeschlossen hatten mit dem Ziel, gemeinsam den jeweils individuellen Vorteil zu suchen. Im Automobilmuseum von Turin ist eine große Karte zu sehen, auf der mit Leuchtpunkten alle Orte in der Stadt markiert sind, an denen einst Betriebe dieser Branche arbeiteten. Was früher einem Sternenhimmel geglichen haben muss, ist heute finster. Ähnliche Karten ließen sich längst für ganz Italien und für viele Branchen anlegen, für die Hersteller von Haushaltsmaschinen (Zanussi, Merloni) oder von Bürogeräten (Olivetti), für die Möbelindustrie ebenso wie für die Hersteller von Musikinstrumenten. In den Jahren nach Beginn der sogenannten Finanzkrise sank die Industrieproduktion Italiens um etwa ein Fünftel. Eine Million Arbeitsplätze wurden vernichtet. Man mache sich nichts vor: Irgendwo muss sich der Außenhandelsüberschuss von Staaten wie vor allem Deutschland niederschlagen. Seit 2015 wächst die Industrieproduktion wieder, mit ein bis zwei Prozent pro Jahr. Mittlerweile hat sie das Niveau der späten Neunziger erreicht.

Eine niederträchtige Verdrehung der Verhältnisse

"Die Schnorrer von Rom" tönt es jetzt den Italienern aus der deutschen Presse entgegen, in einer niederträchtigen Verdrehung der Verhältnisse: niederträchtig, weil sie sich dem schlichten Gedanken verweigert, dass es, wenn es Gewinner eines Wettbewerbs gibt, auch Verlierer geben muss - und stattdessen den Verlierer dafür schmäht, nicht zu den Gewinnern zu gehören. Dabei ist es nicht nur falsch, sondern Ausdruck nationalistischer Verblendung, die Schuldigen an diesem Scheitern persönlich namhaft machen zu wollen, sei es in Gestalt von Menschen, sei es in Gestalt von Charakterzügen ("la dolce vita"), die im Süden besonders verbreitet sein sollen.

Selbstverständlich hatte Italien, getrieben vom unbedingten Willen, an der Währungsunion teilzuhaben, die eigenen Möglichkeiten übertrieben freundlich betrachtet, den Erfahrungen der Vergangenheit zum Trotz - von den sechs DM, die man im Jahr 1970 für 1000 Lire bekam, war in den späten Neunzigern nicht einmal mehr eine Mark übrig geblieben. Andererseits war den anderen prospektiven Euro-Staaten keineswegs entgangen, wie flexibel man in Italien mit den Beitrittskriterien umzugehen wusste, und war selber nicht weniger flexibel. Das Interesse, eine Gemeinschaft zu bilden, so groß und mächtig wie möglich, war stärker als der Wille, auf den Kriterien zu beharren - auf Kriterien zudem, die mit einer maximalen Staatsverschuldung von 60 Prozent des BIP und einer Neuverschuldung von höchstens drei Prozent pro Jahr vor allem die deutschen Verhältnisse spiegelten.

Italien hatte die unmittelbaren Auswirkungen der sogenannten Finanzkrise des Jahres 2008 mit relativ geringen Schäden überstanden. Keine der italienischen Banken musste gerettet werden, als den deutschen Banken mit 226 Milliarden aufgeholfen wurde und die Schuldenquote der Bundesrepublik von 64 auf 81 Prozent des BIP stieg. Und selbstverständlich war Italien dabei, als es um die "Rettungspakete" für Griechenland oder Portugal ging - während die Rettung von zwei italienischen Regionalbanken im vergangenen Jahr (mit 17 Milliarden Euro) als ebenso skandalöse wie strikt nationale Angelegenheit behandelt wurde. Die mittelbaren Auswirkungen der Krise fielen dann aber umso heftiger aus: In der langen Rezession, die auf die sogenannte Bankenkrise folgte, sortierte sich der gesamte Markt neu, zum Nachteil der nach wie vor eher mittelständischen, kleinteilig verfassten italienischen Industrie, mit wachsenden Verlusten auch im Norden - während Teile der italienischen Industrie, allen voran der Automobilkonzern Fiat, nicht nur die Produktion, sondern auch die Verwaltung und die Steuerpflicht ins Ausland verlegten.

Die Versprechungen von "Movimento 5 Stelle" und der Lega sind nicht so abenteuerlich, wie sie hierzulande dargestellt werden

Deswegen klingt es wie ein Hohn, wenn Hans-Werner Sinn nun erklärt, Italien habe die "Wettbewerbsfähigkeit" vernachlässigt. Das Gegenteil ist der Fall: Man hat sich unablässig damit beschäftigt. Tatsächlich ist in diesem Land, von der Schließung der "Cassa per il Mezzogiorno" (1984) bis zur Kürzung der Renten (in mehreren Etappen, zuletzt 2011 unter Mario Monti), von der Kündigung der "scala mobile", der automatischen Anpassung der Löhne an die Inflation (1992), bis zum Programm einer "Valorisierung" der Kulturgüter (2014) kaum etwas unversucht geblieben, eben jene "Wettbewerbsfähigkeit" zu verbessern, die Staatsausgaben zu senken und die Einnahmen zu erhöhen: Die Anstrengungen haben indessen nie ausgereicht, einer überlegenen Konkurrenz wegen, aber auch aus inneren Gründen, unter denen, diesseits von Korruption und Bürokratie, die mangelnde wirtschaftliche Produktivität des Südens der wichtigste ist. So kommt es, dass für eine Steigerung der "Wettbewerbsfähigkeit", etwa in Gestalt von verbesserter Infrastruktur, schlicht kein Geld mehr da ist. Diese "Fähigkeit" muss bezahlt werden. Und wie soll das geschehen, wenn der Staat bei minimalem Wachstum viel zu wenig Steuern einnimmt, während die Zinsen für eine Staatsschuld von mehr als zwei Billionen Euro bezahlt werden müssen?

Die Versprechungen der nun regierenden Allianz zwischen dem Movimento 5 Stelle und der Lega, angefangen bei der Ankündigung einer verbesserten Sozialhilfe (die fälschlich "Grundeinkommen" genannt wird), bis zum Wunsch, 250 Milliarden Euro Schulden bei der EZB erlassen zu bekommen, sind also bei Weitem nicht so abenteuerlich, wie sie hierzulande dargestellt werden. In diesen Begehren verbergen sich lediglich zwei schlichte Erkenntnisse: zum einen, dass die Teilhabe am Euro in Italien nicht mehr als Erfolgsversprechen gelten kann, im Gegenteil, und zum anderen, dass der italienische Staat auf irgendeine Weise seine Handlungsfähigkeit innerhalb der eigenen Volkswirtschaft zurückgewinnen muss. Eingeschlossen darin ist die Bereitschaft großer Teile der Bevölkerung (und auch vieler Unternehmen), sich anders als in den vergangenen Jahren zu verhalten und wieder Geld auszugeben.

Gelingt das nicht, werden in Italien vermutlich noch weit radikalere Kräfte an die Macht kommen als die im Grunde unpolitischen Staatsidealisten des Movimento 5 Stelle. Die Entlastung von den Schulden bei der EZB dürfte sich dann im Nachhinein als leider nunmehr versperrter, aber relativ billiger Ausweg aus der Krise erweisen. Denn auch dies gehört zur Währungsgemeinschaft: Am Ende müssen die Staaten, die ihre Wettbewerber aus dem Markt konkurriert haben, für deren Schulden bürgen, damit das gemeinsame Geschäft weitergehen kann.

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