Lana Del Rey in Berlin:Dicke Lippe riskieren

Lana Del Rey

Gegenentwurf zu Rihanna oder Miley Cyrus: US-Musikerin Lana Del Rey (Archivbild).

(Foto: dpa)

Musik wie in Zeitlupe, null Action auf der Bühne, das Image: Retro. Vor 20 Jahren hätte Lana Del Rey schlicht gelangweilt. Warum also nun dieser anhaltende Hype? Ein Konzertbesuch.

Von Ruth Schneeberger, Berlin

Das Mädchen auf der Bühne hat scheinbar seine Hose vergessen. Zwar trägt es eine unschuldig weiße, hoch geschlossene Bluse (alter Del-Rey-Trick: Hochgeschlossenes mit sexy Details verschärfen), stark tailliert und am Po wie ein Frack geschnitten. Darunter aber: nichts. Nicht einmal Schuhe? Die ganzen schönen langen Beine sind zu sehen, nackt wie Gott sie schuf, und sie reichen tatsächlich bis zum Boden. Offenbar barfuß betritt die Diva, die mit ihrem ersten Album "Born to Die" im Jahr 2012 fünf Millionen Platten verkauft hat, und deren erstes YouTube-Video "Video Games" 57 Millionen Mal abgerufen wurde, an diesem Freitagabend die Open-Air-Bühne der Zitadelle in Spandau.

Rund um die alte Berliner Festung fließt malerisch trübes Gewässer, der Abend ist vergleichsweise kühl für den Sommer, und man fragt sich: Was hat das Outfit jetzt wieder zu bedeuten? Trägt Frau von Welt wirklich kein Schuhwerk mehr? Ist aus der Oldschool-Diva ein Hippiemädchen geworden, das zu den Blumen im Haar nun einengenden Highheels abschwört? Fließt der gequälte Gesang besser, wenn die Fußsohlen frei sind?

Plötzlich Rock'n'Roll-Prinzessin?

Lana Del Rey hat ihr zweites Major-Album herausgebracht, es heißt "Ultraviolence". Erfahrungsgemäß wachen bei einer solchen Künstlerin, bei der schon zum ersten Album Kritik laut wurde, die sie lieber als One-Hit-Wonder gesehen hätte, viele bissig über die Zweitveröffentlichung. Sie entschieden, ob der Künstler ein Künstler bleibe oder wieder in der Versenkung verschwinde, behaupten viele.

Nun sind über ihr neues Album die Kritiker allerdings voll des Lobes, überrascht und einmal mehr verzaubert von der nachlässig makellosen Retro-Königin und ihrem ganz besonderen wehleidigen Sound. Zudem hieß es: Sie habe sich auch optisch nochmal ganz neu erfunden. Das Haar sei jetzt wilder, sie rauche Zigaretten, und dann trete sie eben auch noch barfuß auf. Das seien deutliche Schritte in Richtung Rock'n'Roll, aus der morbiden Pop-Melancholikerin im 60er-Jahre-Look werde nun vielleicht ein Rockstar. Das Konzert in Berlin ist deutschlandweit in diesem Jahr ihr einziges.

Um das gleich klarzustellen: Lana Del Rey ist von einem Rockstar-Image immer noch ähnlich weit entfernt wie Putin vom Friedensnobelpreis. Da steht eine junge Dame auf der Bühne, die mit ihrem nach wie vor sorgfältig onduliertem Haar, den geformten Augenbrauen und geklebten Klimperwimpern, künstlichen Fingernägeln und fehlendem Beinkleid (viele im Publikum versuchen bei jeder Mini-Bewegung zu eruieren, ob sie wenigstens eine Unterhose trägt, und das scheint wohl so zu sein), mit all diesen sorgsam ausgewählten Accessoires inklusive zartem Goldarmband wirkt wie eine frisch gekürte Schönheitskönigin auf dem Abschlussball. Ein Highschool-Schwarm, dem die jüngeren Mädchen in den ersten Reihen, die ganz wie ihre Ikone fast allesamt ebenfalls Blumen im Haar tragen, zujubeln, vor Rührung weinen, sein wollen wie sie.

Brav in Berlin

Brav betritt diese Lana Del Rey die Bühne, schüchtern lächelnd. Brav winkt sie zwischendurch ins Publikum, brav bedankt sie sich bei den Berlinern, dies sei ein so außergewöhnlicher Ort, und die Fans so außergewöhnliche Menschen, sie sei sehr dankbar und würde sie dafür bewundern. Brav steigt sie auch mehrfach ins Publikum hinab, lässt sich umarmen, gibt Autogramme, schießt Selfies mit ihren jüngeren Lookalikes. Nein, das ist kein Rockstar. Das ist ein adrettes, höfliches All-American-Girl mit Vorbildfunktion. Wären da nicht diese Lieder, dieses Image und diese Stimme - man könnte Lana Del Rey an diesem Abend glatt für die dunkle Schwester der jungen Britney Spears halten, eine Pop-Prinzessin der düstereren, aber dennoch seichten Art.

Doch da gibt es eben noch die andere Lana Del Rey. Sie hat ein paar wirklich veritable Hits gesungen, "Summertime Sadness" etwa, auch auf dem neuen Album sind wieder ein paar dabei: Zwischen Songs wie "Westcoast", "Brooklyn Baby" und "Shades of Cool" finden sich selbstredend wieder dramatische Titel wie "Sad Girl", "Cruel World" und "Pretty When You Cry" - doch das Besondere an dieser Künstlerin ist ja, dass sie tiefe Traurigkeit als ein hohes Gut verkauft. Und dass diese Lieder zwar teils von pittoresk gepflegter Langeweile zeugen, teils ihr angenehm sanftes Timbre aber auch in packende Höhen und Tiefen entführen.

So ist es auch an diesem Abend in Berlin. Sie singt nicht viele neue Titel, einige aber mit deutlich mehr Verve als die alten, andere wie in Zeitlupe. "Die geborene Entertainerin ist sie ja nicht", wagt ein Mädchen im Publikum Zweifel an ihrer Bühnentauglichkeit anzubringen, doch ihr Freund blitzt scharf: "Das muss sie auch nicht, sie ist ja nicht Mick Jagger!"

Diese weitreichende, weltumspannende Sympathie ist nicht nur damit zu erklären, dass da ein hübsches, talentiertes Mädchen extrem geschickt vermarktet wird. Es ist schon ein bisschen mehr. Denn diese andere Lana Del Rey ist lasziv, aber nicht peinlich, Lolita, aber nicht klischeehaft sondern erfrischend. Sie ist andeutungsweise verrucht, ein bisschen schräg, aber nicht schrill, divenhaft, aber nicht nervig, sie ist retro, aber dennoch nie dagewesen, hip, aber nicht angestrengt, kitschig aber cool. Sie wirkt ein bisschen sediert, aber sie würde nie betrunken von der Bühne fallen. Lana Del Rey ist von allem ein bisschen, und dabei genau richtig. Vor allem anderen aber ist sie: eine Kunstfigur.

"Gangsta-Nancy" ohne Gangster

Man kann auch heute, zweieinhalb Jahre nachdem die bis dahin gänzlich Unbekannte in den Musikmarkt eingeschlagen ist wie ein Bömbchen, demjenigen oder denjenigen, die auf die Idee gekommen sind, aus der zwar hübschen aber unscheinbar blondierten und eher mittelmäßigen Sängerin Elizabeth Woolridge Grant, die in alten YouTube-Mitschnitten auf Kleinstkonzerten in Brooklyn zu sehen ist, eine Pop-Diva im Stile einer Hollywoodschönheit zu machen, nur beglückwünschen zu diesem Clou - der auch mithilfe einer äußerlichen Komplettverwandlung geschafft wurde, inklusive deutlicher Mundvergrößerung, ihrem unverkennbaren Markenzeichen. Und mithilfe eines Videos, das so sorgsam inszeniert wurde wie Lana Del Reys Äußeres, damit es wirkt wie selbstgemacht.

Wer glauben will, der kann glauben, dass da eine damals 24-Jährige ihre Freunde im Garten gefilmt hat, und zu einem traurigen kleinen Sommerlied außerdem noch ein paar Retro-Schnipsel aus Hollywoodfilmen hinzugefügt hat. Die anderen ahnen: sehr geschickt platziertes Werbefilmchen, Initialzündung für einen Star, der in den folgenden Monaten mit so vielen Reminiszenzen an vergangene Helden aus dem Musik- und Showbusiness gespickt wurde, dass er wie eine Wiedergängerin all dieser vergangenen Helden wirkt, nur ein bisschen lockerer.

Nancy Sinatra zum Beispiel, von der Lana Del Rey selbst angibt, sie sei ihr Vorbild, allerding sei sie selber eher eine Art "Gangsta-Nancy". Das ist eine nette Vorstellung, nur: Wo genau war noch gleich das gangsterhafte an Lana Del Rey? Eben: Verkaufe halt. Die junge Diva gibt gleich so viele amerikanische Vorbilder glanzvoller vergangener Zeiten an, dass sie nie ganz festgelegt werden kann, ein bisschen nebulös bleibt, ein Traum von einer Retro-Diva. Dass sie sich gerne mit Männern umgibt, die auf den ersten Blick nicht zu ihr passen, entweder deutlich älter, deutlich abgefuckter oder, wie in einem Video, fette Rocker sind, lässt ihre rüschige Fassade doch nur noch mehr strahlen - das Beauty-and-the-Beast-Prinzip.

Disney-Ausgabe von Amy Winehouse

Sie hat ein bisschen diesen Star-Appeal einer Amy Winehouse, auch deren abgründige Seite lodert immer wieder auf - allerdings ist Lana Del Rey an diesem Abend in Berlin eher eine Disney-Ausgabe von Winehouse: so viel glatter, makelloser, harmloser, und auch oberflächlicher. Aber auch deutlich eleganter. Wenn sie sich zwischen zwei Liedern auf der Bühne eine Zigarette reichen lässt, dann soll das möglichst nach Diva aussehen. Funktioniert allerdings nur bedingt; nicht alle nehmen ihr diese stilisierte Coolness ab. Was aber bleibt, nimmt man die ganze Verkleidung weg, ist: diese Stimme. Sie trifft nicht immer ausnahmslos jeden Ton, aber sie ist dennoch unverwechselbar. Und nicht nur, weil Lana Del Rey gerne so nachlässig durch ihren Schmollmund nuschelt. Sie kann auch anders, und das sind die besten Momente.

Ähnlich unverwechselbar: die Verweigerung, sich auf der Bühne körperlich anzustrengen. Für ein Lächeln reicht es in Berlin, aber zu ihrer Musik tanzen sehen wird man Lana Del Rey wohl nie. Abgesehen von ein paar angedeuteten Gesten, die sie sich ebenfalls bei alten Musiklegenden abgeschaut hat: Mal macht der Unterarm eine ausladende Bewegung, mal schwingen die Hüften ganz sanft, und immer wieder werden die Haare neckisch mit der Hand zurückgeworfen. Abgesehen von diesen Minimaleinlagen tanzt sie überhaupt nicht.

Tanzen kommt nicht in Frage

Das ist ein strikter Gegenentwurf zu den Rihannas, Mileys und Gagas ihrer Zeit, die sich in ihren Shows immer noch artistisch zu übertrumpfen versuchen. Lana Del Reys absolute körperliche Zurückhaltung ist zunächst wieder mal eine Reminiszenz an Zeiten, als es auf der Bühne noch nur um die Musik ging und kaum um Körpereinsatz. Aber sie ist wohl auch ein Grund, warum das Publikum sie für ihre Entspanntheit schätzt. Denn noch mehr zeigen als Rihanna geht nun mal nicht, und noch aufgedrehter als Miley Cyrus vom Leder zu ziehen, ist fast unmöglich, noch eindeutiger als Katy Perry Sahne aus ihren Brüsten zu sprühen wie es Jahrzehnte zuvor schon Madonna angedeutet hat, ist inzwischen langweilig, und noch mehr gaga als Lady Gaga zu sein, das ist zumindest schwierig.

In der Verweigerung, sich auf diesen Wettbewerb einzulassen, hat Lana Del Rey wieder alles richtig gemacht. Und so geht es am Ende zwar noch sehr viel um die makellose Hülle und die verkauften Träume von melancholischer Rückwärtsgewandheit, Glanz und Glamour vergangener Zeiten. Aus dem Mund einer Sängerin, die Feminismus für ein "nicht gerade interessantes Konzept" hält. Doch dieser Mund sagt eben auch hin und wieder Dinge wie "Ich wünschte, ich wäre schon tot". Und da Lana Del Rey an diesem Samstag, an ihrem 28. Geburtstag, den Club 27 verlässt (ein Alter, in dem viele berühmte Musiker, wie etwa Amy Winehouse, Kurt Cobain oder Jimi Hendrix verfrüht starben), ahnen wir: Diese Lana Del Rey riskiert gerne eine dicke Lippe - das aber immer im Sinne der Kunstfigur, die sie spielt.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: