Süddeutsche Zeitung

"Blue Banisters" von Lana Del Rey:Kornblumenblau

Von Lana Del Rey gibt es schon wieder ein neues Album. Ist das Konzept mit dem ganzen Hollywood-Hills- und Melancholie-Gedöns nicht langsam ausgereizt?

Von Joachim Hentschel

Wäre man selbst Lana Del Rey, müsste man sich ständig diese elenden Fragen stellen, bei jedem neuen Song, jedem Album oder Video. Diese Grundsatzdinge: Was kann eigentlich als Nächstes noch kommen? Ist das Konzept mit dem ganzen Hollywood-Hills- und Melancholie-Gedöns nicht langsam ausgereizt? Vielleicht auch: Ist wieder irgendein Detail dabei, für das die Instagram-Leute sie als Rassistin oder Sexismus-Apologetin beschimpfen werden? Ach, es muss unerträglich sein.

Das ist im ersten Moment eines der erfreulichsten Begleitgefühle, wenn diese Sängerin und Songwriterin wieder ein Werk veröffentlicht, wie jetzt, zum bereits zweiten Mal im Jahr 2021: die Erkenntnis, dass wir uns mit all diesen Überlegungen nicht abplagen müssen, weil die Künstlerin es für uns tut. Im zweiten Moment bemerkt man sogar noch, dass Lana Del Rey, die oft Geschmähte und Unterschätzte, mit ihrem neuen, seit 2010 insgesamt achten Album "Blue Banisters" in der Tat wieder ein paar bestechend interessante Antworten auf die Fragen gefunden hat. Und so sehr einem die Vernunft auch sagt, dass es jetzt doch mal reicht mit dem Schwarz-Weiß-Film-Diva-Haften, dem schwersüßen Gehauche und den bedeutungshubernden Amerika-Analogien - am Ende muss man auch diese Platte wieder empfehlen. Vielleicht nicht dringend, aber immerhin.

Die Themen für einen Vier-Minuten-Song: Sprache, Jugend, Rausch, Liebe, Freiheit und motorisierte Fortbewegung

"Banister", das Wort ist nicht sonderlich bekannt, bedeutet Geländer, an einer Veranda zum Beispiel. Das Video zum Titelsong zeigt in einer Szene buchstäblich, wie Lana Del Rey mit einer heiteren Gruppe von Freundinnen dieses Geländer streicht, nicht grün oder gelb, sondern blau. Womöglich wird es ja das sein, was ihr die Leute dieses Mal unvorteilhaft auslegen: Blau als die Farbe der rechtskonservativen Blaue-Augen-Verherrlichung oder der Kornblumen, die sich Politiker von AfD und FPÖ gern anstecken.

Solche Symboltafeln dürften allerdings das Letzte sein, worüber sich die 36-jährige gebürtige New Yorkerin hier Gedanken gemacht hat. Wenn der blaue Lattenzaun auf "Blue Banisters" für irgendetwas steht, dann höchstens für die große Dilemmafrage, wie sich jegliche Art von konzisem Lebensentwurf mit dem inneren Sturm und Wahnsinn vereinbaren lässt, den das kreative Ich erlebt. Ob ein Abgleich zwischen den Welten überhaupt noch möglich ist, ein Kompromiss zwischen den entfesselten Instinkten des neuzeitlichen Menschen und den tradierten sozialen Formen, denen wir mangels Alternative noch folgen. "I get wild and fucking crazy, like the colour blue", singt Lana Del Rey etwa in "Nectar Of The Gods", und obwohl das Stück nur gut vier Minuten lang ist, kommt hier alles zur Sprache, Jugend, Rausch, Liebe, Freiheit, motorisierte Fortbewegung, und natürlich auch irgendwie: Kalifornien. Nur um den Tod scheint es nicht zu gehen, doch da kann man sich auch täuschen.

Ihren Körper beschreibt sie in "Arcadia" als Abbild einer amerikanischen Straßenkarte

Vor rund zehn Jahren wurde Del Rey bekannt, als leicht nachtschattiges, schwermütiges Update einer Beverly-Hills-Lady, mit allen eingebauten Uneigentlichkeiten. Sie sang von Blue Jeans und Videospielen, klang für die einen nostalgisch, für die anderen clever ironisch, für die Dritten wie ein Cartoon, wie die Zeichentrickfrau aus "Roger Rabbit". Sie fing sich Kritik dafür ein, ein devotes, rückständiges Püppchenbild zu verkörpern. Antwortete darauf unter anderem mit den fantastischen Alben "Norman Fucking Rockwell!" und "Chemtrails Over The Country Club", auf denen sie ihr Rollenspiel um Gesten einer Selbstermächtigung ergänzte, die weit weg war von der Sprache der feministischen Akademie.

Aber was macht sie nun? Zum Beispiel singt sie über ihren Körper, beschreibt ihn in "Arcadia" als Abbild einer amerikanischen Straßenkarte: Die Brüste sind die Sierra Madre, die Hüfte der Interstate Highway, das Gesäß ist die Stadt San Gabriel. Was auf Papier wie ein Herrenwitz klingt, wird bei Lana Del Rey - als gravitätische Klavierhymne inklusive durchs Bild wehendem Orchester - zu einer brillanten weiblichen Allmachtsfantasie, einer Art musikalischem Selfie, das jede Pore zeigt. Ein passender Ersatz für die Bilder, die sie Mitte September löschte, als sie von einem Tag auf den anderen ihre Social-Media-Konten auflöste.

Einigen Ärger gab es schon vorab um die Passage im Song "Text Book", in dem sie lapidar den Besuch einer "Black Lives Matter"-Demo beschreibt. So weh es bei derartig brennenden Themen auch tun mag, exakt darum dreht sich so vieles in Lana Del Reys Kunst: um das Leiden an der Bedeutungslosigkeit sozialer Rituale, zu denen am Ende eben auch ein Protestmarsch zählen kann. Um die Suche nach Wahrheit im schillernden Reich der Introversion. Und um die Versuche, mithilfe der dort gewonnenen Erkenntnisse vielleicht doch noch funktionierende Bindungen aufzubauen.

Selbst musikalisch beginnen sich die Strukturen auf "Blue Banisters" mitunter aufzulösen. Ab und zu verliert sich der Rhythmus zwischen Klavier und Hintergrundrauschen, fallen die Backgroundsängerinnen im großartigen "Black Bathing Suit" herrlich aus ihrer Rolle. In "Dealer", einem Duett mit Miles Kane, rastet Lana Del Rey dann auf eine Art und Weise aus, wie man es noch nicht gehört hat. Und brüllt die Blue-Velvet-Cocktailplüschbar derart zusammen, dass den Gästen wohl noch tagelang die Ohren zischen werden.

Aus Verbrauchersicht rangiert "Blue Banisters" vielleicht nicht ganz so hoch wie die vergangenen beiden Meisterstücke. Das Album wird in der zweiten Hälfte etwas gleichförmig, einige Überbleibsel aus alten Sessions wurden angehängt, es zieht sich etwas. Vermutlich wird es irgendwann im Rückblick als hybrides Übergangswerk gelten, aber um das zu sagen, müsste man wissen, was Lana Del Rey hier noch draufsetzen will. Und die Frage mag man heute wirklich nicht beantworten müssen.

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