"Lamb" im Kino:Unheimlich süß

"Lamb" im Kino: Adoptiert ein Menschenschaf: Noomi Rapace in "Lamb".

Adoptiert ein Menschenschaf: Noomi Rapace in "Lamb".

(Foto: A24)

Ein Kind - halb Tier, halb Mensch: das faszinierende Familien-Horrordrama "Lamb" mit Noomi Rapace.

Von Nicolas Freund

Am unheimlichsten ist die Szene, in der Ada sich selbst im Spiegel sieht: die kindliche Gestalt in der dicken Jacke gegen die isländische Kälte, ihr rechter Arm, der in einem Huf endet und ihr Kopf mit dem weißen Fell, der Schnauze und den großen, dunklen Augen. Ein Schafskopf auf dem Körper eines Kindes. Ein Ding, das es so nicht geben sollte. Was zur Hölle muss da in ihr vorgehen?

"Lamb" ist ein Überraschungserfolg - zumindest im Maßstab des Subgenres isländischer Horrorfilm: Beim Filmfestival in Cannes lief das Debüt des Special-Effects-Spezialisten Valdimar Jóhannsson in der Sektion "Un certain regard" und wurde mit dem "Preis für Originalität" ausgezeichnet; in den USA spielte "Lamb" über zweieinhalb Millionen Dollar ein, was eigentlich wenig ist, für isländische Filme in Amerika aber sehr, sehr viel. Vor allem, wenn sie zeitgleich mit James Bond im Kino starten. Nicht unwichtig für den Erfolg war bestimmt Noomi Rapace, die auch in Hollywood bekannte, schwedische Schauspielerin, die in dem Film Adas Menschenmutter Maria spielt und für diese Rolle nach Island und zu der Sprache ihrer Kindheit zurückkehrte. Eigentlich ist diese Produktion eine Nummer zu klein für sie. Aber auch die international erfolgreiche Schauspielerin muss in dem schrägen Stoff etwas gesehen haben.

Maria und Ingvar holen das alte Gitterbett aus der Scheune und kleiden das Wesen ein, als wäre es ihr eigenes Kind

Gemeinsam mit ihrem Mann Ingvar (Hilmir Snær Guðnason, in seiner Heimat ein Star seit der Hauptrolle in dem isländischen Kultfilm "101 Reykjavik") betreibt Maria eine Schaffarm im Norden Islands, wo die Winter lang sind und auf dem schroffen Vulkangestein weit und breit kein Baum wächst. Wie ein Tarnmuster liegen weiße Schneereste das ganze Jahr über in den Rinnen der Wasserläufe, oben auf den dunkel drohenden Bergen, die das Tal mit dem abgelegenen Hof einschließen. Dort in der Einöde wird im Stall von einem Schaf das unheimliche Wesen geboren, halb Tier, halb Mensch. Ein Monster eigentlich, ein Ding, das es nicht geben dürfte und das doch atmet und lebt. Maria und Ingvar zögern keine Sekunde. Sie schließen es sofort ins Herz, nehmen es mit in ihr Haus, holen das alte Gitterbett aus der Scheune, kleiden das kleine Wesen ein, baden es und ziehen es auf, als wäre es ihr eigenes Kind.

Wie in der Spiegelszene muss sich der Zuschauer selbst erschließen, warum sich das Paar zur Adoption dieses Monsters entschließt. Was denken sie sich dabei? Warum informieren sie keinen (Tier-)Arzt? Oder wenigstens, keine Ahnung, die Behörden? Der Film erklärt wenig, und gerade weil der Zuschauer große Teile der Handlung und des Innenlebens der Figuren selbst ergänzen muss, ist der emotionale Effekt so stark. Denn Ada, das erfährt man nebenbei, ist eine Wiedergängerin. Es gab schon einmal eine Ada, aber als Menschenkind. Sie ist begraben auf einem grünen Hügel unweit des Bauernhofs. Wenn die neue Ada nicht so unheimlich süß wäre, dieses Menschenschaf, das auch noch Ersatzkind sein muss, es wäre ein absoluter Albtraum. Nur Petur (Björn Hlynur Haraldsson), Ingvars Bruder, der eine Weile bei der "Familie" wohnt, wagt es zu fragen: Was ist das bitte für ein Ding? Mehr als einmal nimmt jemand das Jagdgewehr von der Wand.

"Lamb" im Kino: Für die Liebe notfalls zu allem bereit: Noomi Rapace in "Lamb".

Für die Liebe notfalls zu allem bereit: Noomi Rapace in "Lamb".

(Foto: Lilja Jonsdottir/A24)

Es kommt ja vor, dass für trauernde Eltern etwas zum Kinderersatz wird, zum Beispiel ein Haustier, das dann die Rolle des Kindes übernehmen muss. Aber was ist mit Ada? Ist sie nun ein Mensch oder ein Tier? Wo endet die Welt der Tiere und wo beginnt das Reich der Menschen?

Weil nur gezeigt und kaum erklärt wird, überlagern diese Fragen die ruhigen, streng komponierten Bilder vom Familienleben auf dem Bauernhof, was dem eigentlich sehr langsamen Film eine immense Spannung gibt. Immer wieder schleicht sich der Horror heran, wie in der Szene, in der Ada sich selbst im Spiegel sieht und man ihr Entsetzen erahnt, über die eigene Erscheinung, die eigene Heimatlosigkeit im Dasein zwischen Tier und Mensch, ganz ähnlich wie in David Cronenbergs "Die Fliege" der leidende Blick von Jeff Goldblum, als er merkt, dass er sich unaufhaltsam vom Menschen in ein Insekt verwandelt: diese Angst, nicht mehr die Kontrolle über den eigenen Körper zu haben. "Lamb" ist aber noch mal ein bisschen anders.

Der Film unterläuft diesen Horror, mit dem das Kino so gerne reizt. Denn die liebe Ada sieht glücklich aus, wie sie ist, wenn Maria ihr einen Blumenkranz flicht oder mit ihr badet. Warum sollte sie sich unwohl fühlen, wenn sie doch kein anderes Dasein kennt? Liegt diesem Grusel, den wir bei ihrem Anblick verspüren, nicht unsere eigene Angst zugrunde, die letztlich die Angst vor dem Fremden ist? Die Angst, nicht geliebt zu werden, nicht einmal von sich selbst?

Und schlägt nicht auch umgekehrt in jedem Filmmonster tief drinnen ein gutes Herz? Waren nicht schon die Urtypen der Kinoungeheuer, "King Kong" (1933) und "Der Schrecken vom Amazonas" (1954), nur unglücklich verliebt? Oder schon mehr als 100 Jahre zuvor Frankensteins Monster, das doch auch einfach dazugehören wollte? Sind die Triebfedern, die in ihnen arbeiten, den unseren so fremd? Es ist immer die Liebe, die sie zu Monstern macht.

Lamb, 2021 - Regie: Valdimar Jóhannsson. Buch: Sjón, Valdimar Jóhannson. Kamera: Eli Arenson. Mit: Noomi Rapace, Hilmir Snær Guðnason, Björn Hlynur Haraldsson. A24 Filmverleih, 106 Minuten.

Zur SZ-Startseite

Neu in Kino & Streaming
:Welche Filme sich lohnen und welche nicht

Jessica Chastain und Penélope Cruz prügeln sich durch den Agentinnenthriller "The 355". Und Noomi Rapace zieht ein Mischwesen groß im Horrordrama "Lamb". Die Starts der Woche in Kürze.

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: