"Chromatica" von Lady Gaga:Das Stimmungstief ist überwunden

Lady Gaga Pressebild

Stefani Germanotta alias Lady Gaga auf ihrer Reise zum Planeten Chromatica.

(Foto: Brandon Bowen/Universal Music)

Die Welt will Spaß, trotz der Pandemie, und das neue Album von Lady Gaga, "Chromatica", bietet genau das: Ektase für den Heim-Isolations-Dancefloor.

Von Jan Kedves

Tonleiter rauf, Tonleiter runter: Die Chromatik kennt nur eine Richtung. Entweder geht's Halbtonschritt für Halbtonschritt in den Keller, oder in Halbtonschritten in die Höhe, die man musikalisch gemeinhin ja mit Leichtigkeit, Freude, Luftigkeit verbindet. Gut, das ist etwas vereinfacht dargestellt, aber im Pop mag man Vereinfachungen. Die Chromatik scheint jedenfalls auch im Vakuum des Weltalls ihre Wirkung zu entfalten, wie Stefani Germanotta alias Lady Gaga auf ihrer Reise zum Planeten Chromatica herausgefunden hat. Der ist, wie sie selbst sagt, ihre neue Heimat. Von der Erde hat sie sich losgesagt. "Chromatica" heißt ihr neues Album.

Gab es je schon so einen stolzen Popsong über das Einnehmen von Psychopharmaka?

Auf Chromatica ist die Schwerkraft nicht so stark wie auf der Erde - das sieht man, wenn Lady Gaga im Musikvideo als rosahaarige, wie vom späten HR Giger designte Alien-Barbarella durch Staub tanzt. Aber auch auf Chromatica geht es auf und ab, auf Höhenflug folgt Downer. Wenigstens darf man hier mit seinen Stimmungsschwankungen offen umgehen, es gibt auf Chromatica kein Stigma. Also singt Lady Gaga im Song "911" über ihre antipsychotischen Pillen. Pillen, die die Stimmung hochfahren, wenn Kopf und Emotionen in den Keller purzeln. "Pop a 911, then pop another one", singt sie. Das ist mutig und sprachlich raffiniert - das Verb "to pop" kann im Englischen eben auch "einwerfen" bedeuten. Gab es schon mal so einen stolzen Popsong über das Einnehmen von Psychopharmaka? "911" passt sehr gut auf dieses Album, das im Grunde genommen ein Manifest der Verletzlichkeit und der starken Selbstbehauptung ist, oder das Zeugnis des Überlebenswillens eines Popstars, der beides kennt: Euphorie und Depression.

"Chromatica" ist nach siebenwöchiger Verschiebung nun erschienen, ursprünglich war das Album für den 10. April angekündigt. Die Ende Februar ausgekoppelte erste Single "Stupid Love", ein wunderbar schreddernder Electropop-Hit, stieg gleich auf Platz 5 in die Billboard-Charts ein. Platz 21 in den deutschen Charts, nun ja, gegen Deutschrapper ist momentan wenig auszurichten. Dafür Platz 1 in Ungarn, Schottland und El Salvador! Genau das also, was man sich als globaler Popstar wünscht, wenn man nach gut dreieinhalb Jahren Studiopause sowie nach einem Oscar-nominierten Ausflug ins Kino ("A Star Is Born") ein neues Album fertig hat und einen starken Auftakt braucht. Doch dann, im März, kam das Sars-CoV-2-Virus, es riss auch die Pop-Industrie, wenn nicht ins Chaos, so doch in Panik und Ratlosigkeit. Die geplante "Chromatica"-Tour wurde abgesagt, Lady Gagas Festival-Auftritte platzten, und ihr selbst schien sich die Frage zu stellen, ob ein Album voller synthetisch-plastischer Dancefloor-Knaller in der Corona-Zeit nicht deplatziert wirken könnte. Ende März teilte sie mit: "Auch wenn ich glaube, dass Kunst in Zeiten wie diesen eines der stärksten Mittel ist, um Freude und Heilung zu spenden, so fühlt es sich für mich einfach nicht richtig ein, dieses Album mitten in die globale Pandemie hinein zu veröffentlichen."

Zwei Monate später ist die Pandemie noch nicht vorbei - aber das Stimmungstief scheint überwunden zu sein. Vielleicht auch, weil es einfach nicht mehr tiefer ging? Die Welt will Spaß, und sie braucht ihn ja auch. "Chromatica" bietet sehr viel Spaß, vor allem klanglich und optisch, mit diesen Neunzigerjahre-Party-House-Beats, mit knalligen Farben, mit Perücken und Space-Age-Kostümen. Man muss schon schmunzeln: Mitte April, als Lady Gaga anlässlich der Corona-Krise das Live-Stream-Popspektakel "One World: Together At Home" kuratierte, mit den Rolling Stones, mit Elton John und Céline Dion, setzte sie sich mit Hornbrille, schwarzem Rollkragenpulli, Business-Jackett und streng gekämmt vor die Webcam. Ein Wall-Street-tauglicher Look der absoluten Ernsthaftigkeit. Auch das ist eine Folge des Virus: dass Popstars sich nicht mehr trauen, so auszusehen, wie sie sonst auf der Bühne stehen, weil man es eventuell pietätlos finden könnte.

Drastisch herbeigetrommelte Ekstase ist immer noch besser als gar keine Ekstase

"Chromatica" beendet aber diese Phase - mit kokett zwinkernder Lollipophaftigkeit zum Beispiel. In "Sour Candy", einer Kooperation mit der megaerfolgreichen koreanischen Girlgroup Blackpink, singt sie vom herrlichen Leben als süßsaures Bonbon: Wickel mich aus, lutsch mich! In "Fun Tonight" geht es zum nervösen Zucken von Disco-Laser-Sounds wieder um eine dunkle Stunde: "I feel like I'm in a prison hell / Stick my hands through the steel bars and yell / What happens now? I'm not okay". Die Musik aber macht gute Laune. Auch in der zweiten Single des Albums, "Rain On Me", ein Duett mit Ariana Grande, triumphiert der Optimismus. Im dazugehörigen Video tanzen beide Sängerinnen, inspiriert von der Figur Psylocke aus dem X-Men-Universum von Marvel, als Superheldinnen durch ein dystopisches Gewitter. Es regnet Dolche! Einen muss Lady Gaga sich selbst aus dem Schenkel ziehen. Aua, das tut weh! Der Song: herrlich! Man könnte ihm höchstens vorwerfen, dass die Schöpfer der Basslinie, auf dem er baut, in den Credits nicht erwähnt werden. Hätte die Soul- und Disco-Sängerin Gwen McCrae nicht 1979 ihren Song "All This Love That I'm Givin'" veröffentlicht, und hätte das Pariser Produzentenduo Cassius nicht 1999 die Basslinie des Songs im French-House-Hit "Feeling For You" gesampelt und durch die Filter gejagt, dann hätte "Rain On Me" jetzt keine ikonische Bassline gehabt. Könnte das einen Streit um Autorenrechte geben? Oder gilt auf Chromatica kein Copyright?

Die restlichen Songs schäumen gut ins Ohr, und wenn es einigen Refrains an Memorabilität fehlt, dann trommeln die Trommelwirbel los. Sie sind - strategisch vor das nächste Einsetzen des Refrains gesetzt - das unsubtile Mittel der Stimmungssteigerung, quasi der letzte perkussive Trick, um die Laune in den Himmel zu explodieren. Trommelwirbel wie diese sind aus der Rave- und Großraum-Clubmusik der Neunzigerjahre bestens bekannt. Lady Gaga scheint der Auffassung zu sein, dass drastisch herbeigetrommelte Ekstase immer noch besser ist als gar keine Ekstase - und dass diese auch auf dem Heim-Isolations-Dancefloor funktioniert.

Elton John findet das auch. Er singt bei "Sine From Above" mit, einem Duett, in dem die beiden Stars die heilende, schöpferische Kraft der Sinuswelle beschwören, also: der Musik. Bevor es aber allzu esoterisch wird, donnern am Ende Drum'n'Bass-Beats los, als perkussive Entsprechung des Gewitters, von dem Lady Gaga zu Beginn des Songs singt, dass sie es sich in Gebeten immer herbeigesehnt habe - damals, als sie noch eine junge, gläubige Katholikin und noch keine Raumfahrerin mit eigenem Stern war.

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