Fellinis "La dolce vita" wieder im Kino:Die Welt einfangen

Fellinis "La dolce vita" wieder im Kino: Der Blick über die Schulter gilt auch uns Zuschauern - kommen wir noch hinterher? Marcello Mastroianni und Anita Ekberg in "La dolce vita".

Der Blick über die Schulter gilt auch uns Zuschauern - kommen wir noch hinterher? Marcello Mastroianni und Anita Ekberg in "La dolce vita".

(Foto: Arthaus)

Als Rom die Stadt der Städte und das Kino die Kunst aller Künste war - Federico Fellinis "La dolce vita" kommt noch einmal in die Kinos.

Von Philipp Stadelmaier

Natürlich hätte man ein anderes Bild wählen können, um die sommerliche Wiederaufnahme der digital restaurierten Version von Federico Fellinis "La dolce vita" von 1960 in den Kinosälen zu feiern, einem der herrlichsten Filme überhaupt. Warum nicht gleich das allerberühmteste, das den Klatschreporter Marcello (Mastroianni) und den Filmstar Silvia (Anita Ekberg) im Wasser des Trevi-Brunnens in Rom zeigt, wohin sie ihn gelockt hat, und wohin er, verzückt von ihren Reizen, ihr gefolgt ist?

Natürlich ist schon die ganze Szene davor, in der die kichernde Ekberg mit einem weißen Kätzchen auf dem Kopf durch die nächtlichen Gassen zum Brunnen schwebt, unbeschreiblich grazil. Und doch sind die entsprechenden Bilder vielleicht zu sinnbildlich für den Film geworden, hängen sie doch in gefühlt jeder zweiten Pizzeria, wie Klischees des "süßen Lebens" auf Italienisch: visuelle Touri-Fallen der Filmgeschichte, deren Originalschauplätze sich noch heute in Rom besuchen lassen.

Also lieber das Paar vor der Trevi-Szene, in Marcellos schwarzem Sportwagen, auf dem Weg durch die römische Nacht, von einer nächtlichen Vergnügung zur nächsten, und auf der Flucht vor den Papparazzi (Papparazzo heißt ein Fotograf und Freund Marcellos, ein Name, der sich nach der Premiere bald als Bezeichnung für den ganzen Berufszweig durchgesetzt hat).

Wenn die Aufnahme so schön ist, dann, weil sie den Blick verschiebt. Weg von der Ekberg, die sich hier als Ikone der Weiblichkeit und Objekt der Schaulust emanzipiert und selbst zur Schauenden wird. Hin zu Marcello, den sie anschaut und dessen Augen selbst längst woanders sind. Er ist es, dem wir hier beim Schauen zuschauen werden, während er uns durch den Film führt, und eben oft auch: fährt.

"La dolce vita" ist eine lange Tour durch Nachtclubs und Partys, vor allem aber über die Via Veneto mit ihren Bars und Cafés, dem Laufsteg der High Society. Und Marcello kennt sie alle. Die Clubbesitzer und ihre Assistenten. Die Prominenten, die ihm für seine Klatschartikel an den Kragen wollen. Die Erbin, mit der er schläft, und die Prostituierte, in deren Wohnung sie dafür gehen. Mit Marcello durchqueren wir das gesamte gesellschaftliche Spektrum. Wir kommen zu den Filmstars, die nachts in alten Ruinen feiern, zu den Arbeitern und Bauern in den Vorstädten, die auf göttliche Wunder warten, zu den Intellektuellen, die nach einem tieferen Existenzsinn dürsten, sowie zu einer dekadenten Aristokratie, die nur noch ihrem Verschwinden entgegenleben kann.

Selten hat ein Film so sehr das Gefühl vermittelt, eine ganze Epoche aus ihrem Mittelpunkt, ihrem Zentrum, ihrem innersten Hitzepunkt heraus zu zeigen. Rom, das ist hier eine Weltstadt, in der alles passiert, alles zusammenläuft, alle sich treffen, ein verdichtetes Universum, das die an einem Hubschrauber befestigte und die Stadt überfliegende Jesusstatue in der Anfangssequenz mit ihren ausgebreiteten Armen zu umschließen und zu segnen scheint. Gleichzeitig sind wir im Jahr 1960 auf einem Höhepunkt der Filmgeschichte, im Goldenen Zeitalter des modernen Kinos und des internationalen Autorenfilms, mit Fellini als Galionsfigur. Vielleicht scheint uns auch deswegen der Film wie kaum ein zweiter für eine vergangene Ära zu stehen, in der das Kino als Kunst aller Künste in der Lage war, eine ganze Welt einzufangen. Eine soziale Welt, aber auch eine Welt der Bilder und der Medien.

Der Film ahnt schon, welche Medien dem Kino bald den Rang ablaufen werden

Denn wie andere moderne Filmemacher filmt Fellini ein Medienregime, das dem Kino bald den Rang ablaufen wird. Als ein riesiger Fernsehtross in dem Vorort einfällt, in dem zwei Kinder vorgeben, eine Marienerscheinung gehabt zu haben, sind es die herumwuselnden Medienmenschen selbst, die zum Spektakel werden. Auch folgt der Film keiner linearen Erzählung, sondern besteht in einer Folge von Episoden und schnelllebigen Erscheinungen, die das Zappen durchs Fernsehprogramm vorwegnehmen.

Dabei erfindet Fellini eine Dynamik aus Erscheinen und Verschwinden, das Schielen nach der nächsten Attraktion, auf die der nervöse Marcello im Auto vielleicht schon ein Auge geworfen hat. Während sein Blick über die Schulter auch uns Zuschauern gilt, die sich fragen, ob wir noch hinterherkommen. Figuren, Ereignisse, Dialoge: Alles folgt so schnell aufeinander ab, dass die Reizüberflutung den Eindruck erzeugt, "zu spät" zu kommen. Als säße die Ekberg im Auto schon gar nicht mehr neben ihm, als sei sie nur noch eine verblassende Erinnerung, während seine Aufmerksamkeit längst woanders ist.

Marcellos Suche - nach Glück, Liebe, der richtigen Frau, dem Sinn des Lebens - verläuft sich im Nichts. So sehr, dass letztlich die Suche selbst verschwindet und nur verzweifelter Exzess übrigbleibt. "Kann man nicht einfach in der verzauberten Ordnung eines vollendeten Kunstwerkes leben?", fragt sich Marcellos intellektueller Freund Steiner (Alain Cuny). Dieses vollendete Kunstwerk ist "La dolce vita" umso mehr, da unter seiner verzauberten, quirligen, chaotischen Ordnung die Leere klafft: Der Tanz des süßen Lebens ist ein Tanz auf dem Vulkan.

La dolce vita, Italien / Frankreich 1960. - Regie: Federico Fellini. Buch: Fellini, Ennio Flaiano, Tullio Pinelli, Brunello Rondi. Kamera: Otello Martelli. Mit Marcello Mastroianni, Anita Ekberg, Anouk Aimée, Yvonne Furneaux. Studiocanal, 167 Min. Wiederaufführung im Kino: 14. 07. 2022.

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