Klassik im Krieg:So verrückt das klingt

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Die Musiker des Kyiv Symphony Orchestra haben bei ihrem Konzert im Dresdner Kulturpalast Ukraine-Fähnchen an ihre Instrumente gesteckt. (Foto: Robert Michael/dpa)

Das ukrainische Kyiv Symphony Orchestra ist nicht auf der Flucht. Es beginnt gerade eine Tournee durch Deutschland. Ein Konzertbesuch in Dresden.

Von Egbert Tholl

Eine seltsame Düsternis breitet sich aus, in die hinein erst die Hörner, dann das Blech einen disparaten Dreiklang spielen, aufgelöst, immer wieder drei Töne hintereinander, die nicht zusammenpassen, aber auch nicht wirklich dissonant zueinanderstehen. Dieses eigenartige Motiv wandert durch alle Instrumentengruppen, während sich ein riesiger, spätromantischer Streichersee ausbreitet, schön. Dann kracht ein Unheil herein, Lärm, die blonde Paukerin hebt auf ihren Instrumenten zu einer Donnerrede an, es wird laut und lauter, eine permanente Massierung, quälende Hornrufe, ein durchgeknalltes Xylophon, auf dem eine leuchtend rothaarige Frau alle möglichen Arten der Groteske ausprobiert - das Kyiv Symphony Orchestra (KSO) beginnt seine Deutschlandtournee im Kulturpalast Dresden.

Was ist das für eine Musik? Ein apokryphes Werk von Schostakowitsch oder Strawinsky? Eines von Mussorgsky, Jahrzehnte weit ins 20. Jahrhundert geschoben? Quatsch.

Was man hier hört und zuvor noch nie gehört hat, ist die dritte Symphony von Borys Ljatoschynskyi (1894 - 1968), komponiert in den Jahren 1950/51. In diesem Moment kann man nicht anders, als in dieser Musik das ganze Leid der Ukraine zu hören. Schytomyr, die Heimatstadt des Komponisten, ist inzwischen zerbombt, er selbst kämpfte zu Lebzeiten mit den Fesseln der stalinistischen Kulturpolitik, und nun hört man dieses Krachen und Tosen, das immer wieder den Wohlklang vernichtet, eine traurige, bittere Poesie, bis Ljatoschynskyi das Ruder herumreißt und auf einen hymnischen Choral zusteuert. Den letzten Satz überschrieb er mit: "Der Friede wird den Krieg besiegen." Der Satz musste weg, das Wort Krieg durfte nicht vorkommen. Damals schon nicht.

Die Männer des Orchesters durften ausreisen. Und müssen am 5. Mai wieder zurück sein

Das Kiewer Symphonieorchester ist nicht auf der Flucht. Es ist auf Tournee, so verrückt das klingt. Schon länger stand es im Kontakt mit der deutschen Konzertagentur KD Schmid, für November dieses Jahres war eine erste Tournee geplant. Die wird, wenn alles gutgeht, auch stattfinden. Aber so lange wollten die Musiker nicht warten und riefen Anfang April die Agentur an. Innerhalb von drei Wochen eine Tournee durch sieben deutsche Städte zu organisieren, ist schon in normalen Zeiten sportlich. Unter den herrschenden Umständen ist es wahnsinnig. Aber es klappt, liebevoll werden die Musiker von den Dresdner Philharmonikern in deren Stammhaus empfangen. Das KSO spielt danach unter anderem in der Elbphilharmonie und in Berlin, dort steht auch ein Besuch des Bundestages an.

Am 7. April kam vom ukrainischen Verteidigungsministerium die Erlaubnis, dass auch die Männer ausreisen dürfen. Dispens vom Krieg, am 5. Mai müssen sie wieder zurück sein. Wollen sie auch. Das Orchester selbst verfasste einen in Teilen wenig zimperlichen Text, in dem sie ihr Vorhaben erläutern. Darin machen sie klar, dass das KSO weiterhin von der Stadt Kiew bezahlt werde, nicht in Auflösung begriffen ist, derzeit keine Werke russischer Komponisten spielen werde (was vor dem Krieg ganz normal war), "um den Aggressor, seine Propaganda und Manipulation zurückzudrängen. Wir müssen unsere europäischen Werte und die ukrainische Kunst präsentieren, um die russische Aggression mit der sanften Macht der Musik zu bekämpfen". Das erste Konzert mit einem rein ukrainischen Programm gab das KSO im Januar in Kiew, als bereits die "Manöver" an der Grenze stattfanden.

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Vielleicht klingt das Vorhaben naiv, aber sie können nicht anders. Im ersten Teil des Konzerts ist die Macht der Musik tatsächlich eine sehr sanfte. Es gibt die erste ukrainische Symphonie überhaupt, geschrieben 1770 von Maxim Beresowski, der von Aufenthalten in Italien seine Vorstellung von lichter Schönheit mitbrachte, die klingt wie ein sehr eleganter Haydn. Es folgt das einzige nicht ukrainische Stück, das "Poème" von Ernest Chausson, weil darin eine Friedensbotschaft versteckt ist und man der Solistin Diana Tishchenko wohl einen glanzvollen Auftritt bescheren will, den sie mit "Melodie in a-Moll" von Myroslaw Skoryk wiederholt. Dieses Stück, 40 Jahre alt, kennt in der Ukraine jeder Mensch, es stammt aus einem Propagandafilm über Partisanen, es eint die Nation, von der Putin immer behauptet, es gäbe sie gar nicht. Das Stück ist Pop, kitschig, pathetisch, aber, so Liubov Morozova, die künstlerische Leiterin des KSO, unter der simplen Melodie lägen Welten. Um die zu verstehen, singt sie einem noch ein anderes Lied vor, "Nich yaka misiachna", das derzeit in den Schutzbunkern überall im Land gespielt wird und dessen Gehalt bis Gogol zurückreicht.

Im Gespräch mit Morozova kommt man sich manchmal recht dumm vor. Sie ist ein flirrender Geist, hat zehn Jahre fürs Goethe-Institut in der Ukraine gearbeitet, weiß alles über ihr Land und dessen Kultur. Wenn sie sagt, sie könne derzeit keine russische Musik hören, nicht einmal Tschaikowski oder Prokofjew, obwohl diese ukrainische Wurzeln hätten, weil sie immer nur Imperialismus höre, dann glaubt man ihr unbedingt. Ihr ganzer Köper sei Ohr geworden. Das genau unterschiedliche Detonationen erkenne. Sie hat einen Zorn, aber keine warme Kleidung dabei. Ihr Dorf in der Nähe von Kiew verließ sie mit ihren beiden Töchtern, als die ersten Bomben einschlugen.

Nach dem Anruf bei der Agentur sammelten sie mit drei Bussen die im Land zerstreuten Musikerinnen und Musiker ein. Nicht alle wollten mit, der älteste Sohn des technischen Leiters ist im Krieg, sein Vater wollte deshalb die Heimat nicht verlassen. Kaum kam das Plazet des Verteidigungsministeriums, ging es über die Grenze nach Polen, 150 Menschen, darunter Angehörige und Kinder, sie spielten in Warschau und Lodz, während eines Konzerts zupfte schon mal die kleine Tochter die Geigerin am Kleid. Aber es war kein fröhlicher Ausflug, viele brauchten in Polen psychologische Betreuung. Und: Geld verdient hier niemand, weder die Agentur noch das Orchester noch die Konzerthäuser, die Eintrittspreise tragen hoffentlich die Reisekosten, in Dresden kosten die Karten 20 Euro, Flüchtlinge dürfen umsonst rein, der Saal ist voll.

Solistin Diana Tishchenko (rechts) und Dirigent Luigi Gaggero in der Dresdner Philharmonie. (Foto: Oliver Killig)

Vor 40 Jahren wurde das KSO gegründet, es spielte Unterhaltungsmusik, später hatte es einen Chef, der es in guter postsowjetischer Manier als Selbstbedienungsladen betrachtete. Dann wechselte die Leitung, und man engagierte den italienischen Dirigenten Luigi Gaggero, einen in Alter wie Neuer Musik bewanderten Musiker. Das war 2018, da hatte er bereits in Kiew ein Ensemble für zeitgenössische Musik gegründet.

Dirigent Luigi Gaggero schwitzt und ackert, das Hemd rutscht aus der Hose, er strahlt

Wie kommt ein Musiker, der in Straßburg lehrt und international arbeitet, in die Ukraine? Er war vor Jahren eingeladen als Zimbelspieler und "verzaubert von der Qualität des Zuhörens des Publikums". Absolute Stille. Beim KSO traf er dann auf Musiker, die auch nach einer achtstündigen Probe noch Fragen haben, weiterüben wollen, denen es in der Musik "um Leben und Tod" geht. "Die Leute dort erwarten eine geistige Botschaft von der Musik. Für die ist diese kein Luxus." Selbst dirigiert er, wenn kein Krieg ist, zwei Programme im Monat - für einen Chefdirigenten extrem viel. Ein bisschen erinnert das an Teodor Currentzis und das, was dieser in Perm aufbaute. Da lächelt Gaggero.

Er nimmt seinen Auftrag extrem ernst. Auch er ist, wie Morozova, ein Geschichtslexikon, erzählt etwa, was Peter der Große (in der Ukraine ist der nicht der Große, sondern nur der Erste) als Erstes tat, als er nach Kiew kam: Er ließ die Bibliotheken verbrennen. "Dieser Krieg ist nicht neu." Er ist auch ein Kulturkampf. Für diesen baute Gaggero mit den völlig enthusiastischen Musikerinnen und Musikern ein Orchester auf, das technisch auf absolutem Top-Niveau ist, das eine enorme Sinnlichkeit im Klang hat. Die völlig disparate Symphonie von Ljatoschynskyi kann er zu einer 40-minütigen Erzählung formen, kann die vielen solistischen Stellen perfekt einbinden, er schwitzt und ackert, am Ende hängt ihm das Hemd aus der Hose, er strahlt.

Vor 1770 gab es in der Ukraine nur fantastische Volks- und geistliche Musik. Die Zugabe ist ein Tanz aus der Kosaken-Oper "Taras Bulba" von Mykola Lyssenko, den offenbar viele kennen. Manche im Publikum klatschen scheu mit, andere singen leise. Dann folgt die Nationalhymne. Alle stehen. Viele halten die Hand auf ihr Herz. Die Hymne wird zur Beschwörung des Überlebens.

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