Süddeutsche Zeitung

Kybernetik:Wie Zukunft entsteht

Thomas Rid hat eine "Kurze Geschichte der Kybernetik" geschrieben. Sie ist sehr umfangreich. Und der Autor ist seiner Aufgabe gewachsen: Sein Gebiet am Kings College in London sind die "War Studies".

Von Johannes Boie

Cyberkalifat, Cybersex, Cyberkrieg, Cyberattacke, Cyberpunk, Cyber-Abwehrzentrum, die Welt ist ganz und gar vercybert. Der zum Präfix degradierte Begriff ist so alltäglich wie rätselhaft, weil kaum jemand weiß, woher er eigentlich stammt. Und unklar ist auch, wie es so weit eigentlich kommen konnte, dass wir alle in einer Cyberwelt leben. Thomas Rid, Professor am Departement für "War Studies" (Konfliktforschung) am Londoner King's College, wollte es genauer wissen. Herausgekommen ist eine über 400 Seiten lange, detaillierte Geschichte. Im Mittelpunkt steht die Kybernetik, die über die englische Verschmelzung Cybernetics eng mit dem "Cyber"-Begriff verbunden ist.

Der Autor hängt die eigenen Ansprüche hoch, weil es nicht anders geht. Rid muss den kybernetischen Bogen äußerst weit spannen: vom Begründer der Kybernetik Norbert Wiener über Timothy Learys Freude daran, bei der ersten Verwendung eines Computers endlich eine Möglichkeit zur Beschreibung des menschlichen Hirns gefunden zu haben - eben die kybernetische Terminologie -, bis hin zu den Cyberkrieg-Fantasien im Militärthinktank "Rand-Corporation"; von den verrückten Vorstellungen des Scientology-Gründers Ron L. Hubbard, der glaubte, dass Menschen - wie Rechenmaschinen - mit korrekten und mit falschen Daten gefüttert werden könnten, bis zu den Cyborgs der russischen und der amerikanischen Streitkräfte.

Kybernetik - eine Mischung aus Natur- und Geisteswissenschaften

Und Rid lässt auch die Literatur nicht aus, die Träume und Mythen, die mit dem, was tatsächlich an Technik geschaffen wurde, auf faszinierende Art verbunden sind. Kybernetik ist immer eine Wissenschaft gewesen, bei der die fixen Ideen der Science-Fiction als Vorbilder für eine zu schaffende Realität dienten.

Das Forschungsfeld der Kybernetik ist kaum noch zu übersehen. Insofern hat Rid trotz des dicken Wälzers, den er geschrieben hat, mit seinem klassisch tiefstapelnden Titel "Eine kurze Geschichte der Kybernetik" recht: Es gibt einfach sehr viel zu erzählen. Fraglich bleibt allerdings die Behauptung Rids, "die Geschichtsschreibung der wirkmächtigsten Ideen zur Zukunft der Technik" werde oft vernachlässigt, da sie nicht "wie Diplomatie und Außenpolitik" in die Archive eingehe. Ist das in Anbetracht von Computer-Museen und auch auf die vor allem im kulturellen Teil der Cyberwelt verbreitete Retro-Orientierung haltbar?

Sei's drum. Eine so ergiebige, umfassende Darstellung, wie Rid sie abliefert, ist in jedem Fall eine große Bereicherung. Nicht nur für Nerds. In zahlreichen Geschichten kann jeder Leser Vorläufer der Gegenwart entdecken: Vorläufer etwa von Googles autonomem Auto oder der rennenden Roboter von Boston Robotics, deren Bewegungen auf Youtube Hits sind, in der Idee der amerikanischen Streitkräfte aus den 1950ern, einen laufenden Roboter zu schaffen, der seinen Nutzer durch den Dschungel Vietnams tragen sollte. Der Krieg und das Militär gehören als Wegbereiter der Digitaltechnik zu Rids ergiebigsten Themen. Denn die Kybernetik und die gesamte digitale Welt, in der wir heute leben, nahmen ihren Ausgang bei ein paar schrulligen Professoren und aufgeregten Militärs, die bessere Technologien gegen Luftangriffe schaffen wollten.

Thomas Rid: Maschinendämmerung. Eine kurze Geschichte der Kybernetik. Aus dem Englischen von Michael Adrian. Propyläen Verlag, Berlin 2016. 425 Seiten, 24 Euro. E-Book 22,99 Euro.

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SZ vom 20.06.2016
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