Süddeutsche Zeitung

Kurzkritiken zu den Kinostarts der Woche:Starke Frauen und Proleten

In "Get" kämpft eine Frau in der Männergesellschaft Israel jahrelang um ihre Rechte. Reese Witherspoon sucht in "Wild - der große Trip" die Einsamkeit der Natur. Für welche Filme sich der Kinobesuch lohnt - und für welche nicht.

Von den SZ-Kinokritikern

Amour Fou

"Würden Sie mit mir sterben wollen? Sie würden mich damit sehr glücklich machen." Ist das Ansinnen grotesk? Eine unverschämte Anmache? Oder doch ultimativer Ausdruck von Liebe? Jessica Hausner rekonstruiert die Geschichte des doppelten Freitodes von Heinrich von Kleist mit Henriette Vogel - eine fein ironische Vivisektion unserer Vorstellungen der romantischen Liebe.

Annie

Man hat befürchtet, dass das schiefgeht: eine von Produzent Will Smith überwachte Transplantation des 70er-Broadway-Musicals über ein New Yorker Waisenmädchen in eine Bubblegum-Twitter-Gegenwart. Und dann ist es noch schlimmer. Will Glucks "Annie" hat von allem zu viel - zuckrige Klischees, High Tech-Materialismus und der ungelenke Pomp der Tanzszenen - und will dann doch zu wenig: ein Verbindung schaffen etwa zwischen den Wurzeln des Musicals in der Great Depression und dem Amerika von heute.

Bros before Hos

Zwei aus Überzeugung vulgäre Stiefbrüder schließen einen Unzertrennlichkeitspakt: Freundschaft kommt an erster, Frauen kommen an zweiter Stelle. Als sich der eine aber in die Freundin des anderen verliebt, werden die Dinge kompliziert. Was Steffen Haars und Flip van der Kuil abliefern, changiert auf kläglichste Weise zwischen obszöner Posse, törichtem Schwank und ridikülem Schmachtfetzen.

Doktor Proktors Pupspulver

Zierfische im Exzentrikeraquarium: Ein kauziger Erfinder, der ein hochenergetisches Pupspulver entwickelt hat. Zwei umtriebige Kinder, die sich mit ihm anfreunden. Ein gnatziger Lump, der hinter dem Pulver her ist. Und seine stumpfsinnigen Zwillingssöhne, die fürs Grobe zuständig sind. Als Bonus mischt Arild Fröhlich noch eine Mutantenschlange in den generischen Plot dieses Kinderfilms. Das Zielpublikum dürfte seinen Spaß haben, für alle anderen gilt: Humor ist, wenn man trotzdem lacht.

Familienfieber

Filme machen heißt, mit schönen Frauen schöne Dinge machen, und nicht, banale Darsteller hässliche Beziehungskrisen improvisieren lassen. Nico Sommers zweiter Spielfilm nach Berliner Impro-Muster lässt die sechs Akteure in einer Brandenburger Villa wie Realityshow-Selbstdarsteller erscheinen und repetiert längst Durchgenudeltes, vom therapeutischen Video-Interview bis zum Proll-Pinkel-Klassenkampf.

Frau Müller muss weg

Gute Schauspieler scheitern in diesem sehr schlechten Film an der Tatsache, dass ein erfolgreiches Lustspiel nicht unbedingt auch als Kinokomödie taugt. Sönke Wortmann adaptiert das gleichnamige Theaterstück um einen eskalierenden Grundschul-Elternabend mit Justus von Dohnányi, Anke Engelke und Mina Tander, die den kollektiven Klassenzimmer-Blues bekommen und ihre Dialoge aufsagen, als hätten sie Kreide gefressen. Eine ausführliche Rezension zu "Frau Müller muss weg" lesen Sie hier.

The Gambler

James Toback ist not amused. 1974 hatte er ein Drehbuch geschrieben über einen Literaturprofessor - James Caan! - , der die Nächte durchzockt, von Gangstern wegen hoher Schulden erpresst wird, den Befreiungsschlag sucht. Die pure Autobiografie. Nun ist Mark Wahlberg dran in einem Remake, Regie Rupert Wyatt, und keiner hat Toback was davon gesagt. Die Koreaner bestimmen nun das Spielgeschäft, Jessica Lange ist Wahlbergs Mutter, aber es gibt immer noch das erregende Gefühl, nach einer Nacht am Spieltisch in die Morgenluft hinauszutreten, alles verspielt, das Leben ruiniert, dieses Glück des absoluten Nullpunkts ...

Get - Der Prozess der Viviane Amsalem

Eine Frau mischt eine Männergesellschaft auf - eine erfolgreiche Komödienformel, hier in einer bitteren Variante aus Israel. Dort wird über die Scheidung von Frau und Mann vor einem orthodoxen Rabbi-Gericht verhandelt, das naturbedingt eher auf der Männerseite sich hält. Fünf Jahre muss in "Get - Der Prozess der Viviane Amsalem" die Titelheldin immer wieder vor diesem Gericht erscheinen, um den titelgebenden Scheidungsbescheid (Gett) zu bekommen. Ein Kaleidoskop von Chauvinismus und drängender Emotionalität, von Lächerlichkeit und Demütigung, konzentriert gespielt von Ronit Elkabetz, die mit ihrem Bruder Shlomi auch die Regie machte.

Wild - Der große Trip

So wie Ron Woodroof in "Dallas Buyers Club" ist nun auch Cheryl Strayed, auf deren Memoiren das Drehbuch von Nick Hornby basiert, gegen alle Wahrscheinlichkeit zu allem entschlossen. Im Gefolge der vielen Sinnsuchenden, die sich derzeit im Kino auf physisch und psychisch zehrende Trips begeben, sucht Reese Witherspoon unter der Regie von im neuen Film von Jean-Marc Vallée die Einsamkeit einer harschen Landschaft auf dem amerikanischen Pacific Crest Trail. Dabei mutet das große Abenteuer wie eine Nummernrevue an den Stationen eines persönlichen Kreuzweges an. "Wild" und weitere Filmstarts hier im Video.

Ein Hells Angel unter Brüdern

Kaum 2500 Mitglieder des sagenumwobenen Motorrad- und Rocker-Club Hells Angels gibt es weltweit, 800 in Deutschland. Es dauert Jahre bis man aufgenommen wird, hat man es einmal geschafft, ist man Teil einer Gemeinschaft, über die zuletzt so viel berichtet wurde wie nie. Die Outlaw- und egenkultur-Romantik, die Motorrad-Clubs seit Dennis Hoppers Film "Easy Rider" umgab, scheint dahin. Die Hells Angels stehen längst nur noch für Gewalt und Verbrechen. Marcel Wehns Blick hinter die Kulissen ist glücklicherweise dennoch eine eindrucksvoll skrupulöse Überprüfung von Mythos und Wahrheit geworden, die die Vorurteile der Öffentlichkeit ebenso auf die Probe stellt wie die Ideologie und Rechtfertigungen der Hells Angels.

Schändung

Der mürrische Däne Mørck und sein devoter Begleiter Assad untersuchen wieder alte, unaufgeklärte Fälle. Diesmal ermitteln sie gegen das Großkapital und finden Klischees: reiche Internatszöglinge, die sich jeden Sadismus erlauben können, oder die Liebe, die viel zu viel rechtfertigt. Mikkel Nørgaard verfilmt seinen zweiten Adler-Olsen-Krimi so düster, wie es die Gerechtigkeit vorschreibt.

Streif - One Hell of a Ride

Am kommenden Wochenende stürzen sich die Skirennfahrer zum 75. Mal die mythenumwehte "Streif" in Kitzbühel hinunter. "Streif - One Hell Of a Ride" begleitet aus diesem Anlass fünf Athleten bei ihrer Vorbereitung auf das Rennen. Der Film leidet unter Produktplatzierungen der Sponsoren - und ist phasenweise doch aufregend anzuschauen: Weil er nicht verklärt, sondern den Fahrer Raum gibt, die Anziehungskraft dieser lebensgefährlichen Abfahrt zu erklären. Eine ausführliche Rezension zu "Streif - One Hell of a Ride" lesen Sie hier.

Top Girl

Wieder wirft die Berliner Regisseurin Tatjana Turanskyj einen Blick auf prekäre weibliche Verhältnisse - der Film ist Teil zwei ihrer "Frauen und Arbeite"-Trilogie. Er bringt ein erfreuliches Wiedersehen mit Julia Hummer, die sich schauspielerisch zuletzt sehr rar gemacht hat. Man folgt ihr gern durch ihren Alltag als illusionslose Berliner Sex-Dienstleisterin - aber wirklich Neues zum Warenwert der Sexperformance im liebestötenden Körper-Kapitalismus kommt nicht dabei heraus.

Unbroken

Männerbünde interessieren Angelina Jolie. In ihrem ersten Film als Regisseurin, "Im Land wo Blut und Honig fließen", die Kämpfer im serbisch-bosnischen Konflikt, in Unbroken nun im Zweiten Weltkrieg amerikanische Kriegsgefangene in japanischen Lagern. Jack O'Connell ist Louie Zamperini, der sich nicht brechen lässt vom supersadistischen Kommandanten Watanabe, den sie The Bird nennen. Eine Parabel über Heldentum, das implosiv wirkt, nicht wie sonst im amerikanischen Kino expansiv. Nach dem Bestseller von Laura Hillenbrand. Eine ausführliche Rezension lesen Sie hier.

Xenia

Schwuler, schrill aufgebrezelter Teenager aus Kreta (Kostas Nikouli) begibt sich zusammen mit seinem Bruder in Athen auf Vatersuche. Reise durch die Minenfelder akuter Xeno- und Homophobie und die Ruinen der ökonomischen Krise. Regisseur Panos Koutras mixt einen bunten Cocktail aus Castingshow-Trash und Anti-Rassismus-Schnulze, dazu eine Prise Almodovar und eine großes, weißes, sprechendes Kaninchen.

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URL:
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Quelle:
Sz vom 15.01.15
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