Kurzkritik:Unirdisch schwerelos

Die Philharmoniker unter Gustavo Dudamel

Von Paul Schäufele

Der Riss der Welt geht auch durch diese Symphonie: Gustav Mahlers Zweite pendelt zwischen Volksfest und Requiem, Schrei und Schweigen, Schreckensvision und Erlösungsmysterium. Die Münchner Philharmoniker unter Gustavo Dudamel vollziehen die integrative Werkstruktur nach - in Mahlers Zauberkasten finden sich Lieder, Märsche, Dies-Irae-Metamorphosen -, ohne das Werk in fahriger Episodenhaftigkeit ausfransen zu lassen. Über Kontrastgestaltung setzt Dudamel Klammern. So wirkt der Kopfsatz zunächst flüchtig, als hätten es die Teilnehmer der Totenfeier eilig gehabt.

Betont gemütlich dagegen schleicht sich der zweite Satz ein. Dudamel gestaltet das Ländler-Idyll mit kammermusikalischer Raffinesse, von denen sich die Moll-Passagen verschroben absetzen. Nicht minder skurril wirkt der scherzoartige Mittelsatz, die instrumentale Fischpredigt. Kurvig und flott steuert man in die Sinnlosigkeit, der mit einem panischen Schrei das Ende bereitet wird. Die dynamische Spannweite ist enorm. Doch am faszinierendsten wirken die Momente absoluter Stille, weil hier spürbar wird, wie die Dramaturgie des Abends aufgeht: Ein Publikum hält den Atem an. Inmitten der Panik markiert das "Urlicht" den Ruhepol, von Tamara Mumford als warmes Schimmern präsentiert, bevor der monumentale Finalsatz mit gewaltigen Klangmassen hereinstürzt.

Sehr viel mehr als am Anfang nimmt sich Gustavo Dudamel hier Zeit, die komplexe Motivarbeit zu durchdringen, Charakteristisches hervorzuheben, auch die kompositorische Geschwätzigkeit Gustav Mahlers herauszustellen. Lächerlichkeit und Größe liegen nah beieinander, hier vereinen sich Ideen vom Jüngsten Gericht mit munter stampfend dargebotener Marschmusik. Unirdisch schwerelos darüber legen sich die Stimmen des Chores (Orfeó Català und Cor de Cambra del Palau de la Música Catalana) sowie der filigrane Sopran der israelischen Sängerin Chen Reiss. Ovationen für eine zwingend durchgeführte Apotheose.

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