Süddeutsche Zeitung

Kurzkritik:Umarmung des Lebens

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Ein Mahler-Abend der Münchner Philharmoniker

Von Barbara Doll, München

Gustav Mahler war ein anspruchsvoller Leser. Für seine Werke hat er sich jedoch - abgesehen von der achten Symphonie - kaum der großen Literatur bedient. Ob Klopstock oder Rückert - Gedichte waren ihm "Felsblöcke, aus denen jeder das Seine formen dürfe". Der Text diente als Vorlage für die musikalische Verhandlung philosophischer Fragen.

Wie unterschiedlich das klingen kann, zeigen die Münchner Philharmoniker unter Valery Gergiev mit Mahlers vierter Symphonie und dem "Lied von der Erde". Die schlankste aller Mahler-Symphonien gilt als die vermeintlich beschaulichste. Gergiev lässt die ersten drei Sätze ein wenig zu leicht und geschmeidig durchlaufen. Dass der Heiterkeit keineswegs zu trauen ist, zeigt dennoch eindrücklich im zweiten Satz Konzertmeister Lorenz Nasturica-Herschcowici mit harter Totentanz-Fidel. Im Finale wird die Doppelbödigkeit deutlicher, wenn Sopranistin Anna Lucia Richter mit sanfter, klarer Stimme das Schlaraffenland aus den Wunderhorn-Liedern heraufbeschwört - und das Orchester die Welt hektisch durcheinander wirbelt.

Klingt die Sehnsucht nach dem verlorenen Idyll in der Vierten bittersüß, so wirkt sie im "Lied von der Erde" überdreht und sanft zugleich. Mahler wendet sich mit Hans Bethges Gedicht-Übersetzung der "chinesischen Flöte" fernöstlichen Geisteswelten zu. Der fabelhafte Tenor Andreas Schager kniet sich tief hinein in die exaltierte Lebensfeier des "Trinklieds vom Jammer der Erde", mit sensationeller Durchschlagskraft und Glanz der Stimme. In der teils sehr blumigen Chinoiserie der "Schönheit" und der "Jugend" lässt Gergiev das Orchester feine, exotische Klanggebilde spinnen, die den "Abschied" vorwegzunehmen scheinen. Dieser gelingt als große Geste des Zerfalls; zunächst dunkel, verhangen, als würde die Erde verdampfen. Tanja Ariane Baumgartners vibratoreicher, warmer Mezzosopran führt schließlich in eine unendlich zarte, liebevolle Umarmung des Lebens. Transzendenz, Versöhnung, Glück.

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Quelle:
SZ vom 17.12.2018
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