Süddeutsche Zeitung

Kurzkritik:Über die Grenzen hinaus

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Igor Levit spielt Beethovens frühe Klaviersonaten

Von Klaus Kalchschmid, München

Welchen musikalischen Erdrutsch vor über 200 Jahren Beethovens frühe Klaviersonaten auslösten, kann man heute kaum mehr ermessen. Da ist es nur zwingend, wenn Igor Levit auch beim jüngsten Konzert seines Zyklus' mit allen 32 Sonaten im Prinzregententheater in die Extreme geht. Dabei reizt er manchmal bis über die Grenzen hinaus aus, was der Notentext vorgibt: So bei der langsamen Einleitung der Sturm-Sonate, die mehrfach wiederkehrt, immer noch erweitert wird und zu einem Ausdrucksträger avanciert, wie man ihn erst aus den späten Sonaten kennt. Levit dehnt diese Phrasen ins Unermessliche, lässt sie im Pianissimo geradezu ersterben, was den Hustenreiz des Publikums auf eine harte Probe stellt. Dabei ignoriert er, dass zwar "con espressione", aber auch "semplice" in den Noten steht. Im Adagio zeigt er, dass die Langsamkeit dieses Beginns quasi auskomponiert wird, bevor sich das Finale in eine seltsam vitale d-moll-Heiterkeit hineinarbeitet.

Dagegen wirkt die Pathetique am Ende bei aller Reife und Luzidität vor allem des Finales fast konventionell, während die B-Dur-Sonate op. 22 nicht nur durch ein wunderbares Legato besticht, sondern immer wieder erneut in Randbezirke, nicht nur der Dynamik geführt wird: so im geradezu explodierenden Moll-Trio des Scherzos oder im Finale, das beginnt wie Mozart und plötzlich in 32tel-Kaskaden ausbricht, die wie aus einer anderen Welt stammen. So auch beim nicht ohne Grund Haydn gewidmeten op. 2/3, in dem Levit das Trio aufstampfen lässt wie in einem derben Tanz, bevor er im Finale wieder alle Extreme in dynamischer, artikulatorischer und agogischer Hinsicht ausreizt - bis hin zu verstörenden Generalpausen.

Am Ende folgt als gewichtige Zugabe das manchmal fast nihilistische, aber auch dissonant aufbegehrende oder gar tröstlich hell aufscheinende "Nachtstück" aus Paul Hindemiths op. 22 - mit bewegenden Worten gewidmet Christian Krügel, dem gerade ebenso früh wie plötzlich gestorbenen Chef des München- und Bayern-Teils der SZ.

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Quelle:
SZ vom 02.05.2018
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