Kurzkritik Theater:Gespür für Angst

Amir Reza Koohestanis "Hearing" in der Spielhalle

Von Egbert Tholl

"Hearing" beginnt in der Spielhalle der Kammerspiele so unscheinbar, dass man sich fast schon wundert, warum da überhaupt etwas verhandelt wird. Trügerisch, denn bald wird es enorm groß, auf eine stille, extrem genaue, kluge Art.

Zwei Schülerinnen werden zur Leiterin des Studentinnenwohnheims, in dem sie in Teheran leben, zitiert. Die eine soll in der Silvesternacht Besuch von einem Jungen gehabt haben, die andere hat dies offenbar ausgesagt. Oder auch nicht. Besuch von einem Jungen könnte die Schließung des Wohnheims bedeuten oder zumindest eine sehr verschärfte Aufmerksamkeit der Sittenwächter. Das will die Leiterin vermeiden: "So ein Schamassel wegen eines Haufens Kindsköpfe." Die Tonlage verschleiert zunächst die Gefährlichkeit des Vorgangs, vermittelt erst einmal den Eindruck, es handele sich um einen harmlosen Streich. Die beiden Mädchen, Teil der Mehr Theatre Group, spielen wunderbar. Die schöne Neda (Ainaz Azarhoush) - die, die Besuch gehabt haben soll - ist selbstbewusst, dabei vorsichtig, durchschaut die Situation. Das andere Mädchen (Mona Ahmadi) merkt zusehends, dass sie mit ihrer Aussage - falls sie diese getätigt hat - irgendwo hineingetappt ist, wo sie nicht sein will. Die Leiterin, Mahin Sadri, schwankt zwischen Ohrenlangziehen, Autorität und Angst. Dann fangen sie an, sich gegenseitig für die Leinwand live zu filmen; durch das dokumentierte Bild einer zunächst vordergründig harmlosen Gesprächssituation schleicht sich das Unwohlsein heran. Ein Unwohlsein ob der Überwachung dieser Mädchen, deren Wohnheim ohnehin einem Gefängnis ähnelt. Keine Aussage in Freiheit ist möglich, alles wird zum Taktieren, die Wirklichkeit verschwimmt in einem engen Bereich der gesellschaftlich determinierten Fremdbestimmung.

Neda hat sich umgebracht, berichtet Elham Korda am Ende, weil ihre Träume vom Leben im Ausland zerstoben sind. Ob es konkret stimmt, spielt keine Rolle, weil es stimmen könnte, für alle, die in dieser Gesellschaft leben.

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