Kurzkritik:Subtile Paranoia

Christiane Mudra führt an Tatorte rechter Gewalt

Von Sabine Fischer

An der Ecke zündet sich ein Mann eine Zigarette an, während eine alte Frau mit Hund an ihm vorbeizuckelt. Auf der anderen Straßenseite bleibt ein Vater mit seinem Kind stehen und sieht zu den beiden hinüber. An sich nichts Besonderes, doch ohne es zu merken, wirft man ihnen plötzlich misstrauische Blicke zu: Was eben noch eine unauffällige Alltagsszene war, wirkt mit einem Mal verdächtig. Schuld daran ist Christiane Mudras experimenteller Theaterspaziergang "Wir waren nie weg. Die Blaupause." Denn das in den Straßen Münchens inszenierte Stück lebt von diesem Gefühl der subtilen Paranoia.

Ein heimattreuer Western soll es sein, so steht es zumindest im Programmheft. Was genau das bedeutet, kann man jedoch erst einmal nur vermuten. Irgendwas mit Cowboys? Doch obwohl die einhellig auf Drahteseln durch die Szenerie reiten, geht es eigentlich um etwas anderes: "Wir waren nie weg" entpuppt sich als Stück, das als Western verkleidet eine ganze Reihe von Ungereimtheiten im Umgang der deutschen Behörden mit rechtsextremen Gewalttaten aufdecken will. Klingt nach gewagtem Spagat, doch der funktioniert. Nicht nur werden die oft in wahnwitzigem Tempo heruntergeratterten Textberge soweit fiktionalisiert, dass sie nicht mehr als Fakten gelten können. Subtil stellt Mudra damit auch die Strukturen gegenüber: das von durchsichtigen Regeln geprägte System des wilden Westens auf der einen, und das verstohlen korrupte Behördenlabyrinth Deutschlands auf der anderen Seite.

Zur Kulisse wird all das, was einst Tatort war: das Denkmal für die Opfer des Oktoberfest-Attentats, die erste WG des Neonazis Martin Wiese, der symbolisch nach München verlegte Schauplatz des Mordes an der Polizistin Michelle Kiesewetter. All dem zu folgen fällt - nicht nur wegen des zweieinhalbstündigen Fußmarsches durch die Stadt - schwer: Die Figuren, symbolhaft und oft ungreifbar, verlesen widersprüchliche Auszüge aus Obduktionsberichten mysteriös verstorbener Zeugen, Ausschnitte aus Polizeiakten und Stellungnahmen aus der Politik - Sprachungetüme, die man vielleicht gar nicht verstehen soll. Am Ende verstärkt das vor allem ein Gefühl der Verwirrung - und das ist der eigentliche Coup dieses erhellenden Theaterexperiments.

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