Kurzkritik:Schau-Fenster

Eine Operninstallation von Mathis Nitschke mit Weitblick

Von Jennifer Gaschler

Mitten auf der Münchner Freiheit steht sie da, zwischen Trambahnen und Bussen, Passanten, die noch in die Läden müssen, den letzten Kunden des Wochenmarkts: Katharina hält einen alten Teppich in der Hand, "original aus Marrakesch - versprochen". Sie trägt noch das elegante Kostüm, alles soll normal wirken, obwohl sie längst alles verloren hat: den Partner, den Beruf, die Wohnung. Einem Punk, der vor ihr stehen geblieben ist, schreit sie ins Gesicht: "Starren Sie mich nicht so an!" Dann läuft sie davon, verschwindet wieder aus dem Blickfeld.

Die Operninstallation von Mathis Nitschke (noch bis Samstag) verwischt die Grenzen zwischen Sehen und Gesehenwerden, zwischen Akteur und Zuschauer. Im Fenster eines Reisebüros sitzen 50 Leute auf Klappstühlen, sind über Kopfhörer mit der Frau auf dem Platz verbunden. Auch hier bleiben die Passanten verwundert stehen, blicken durch das große Schaufenster, ein spanischer Tourist macht ein Foto. Die Installation ist eines von fünf Kunstprojekten im öffentlichen Raum des Wettbewerbs "München - dezentral", mit dem das Kulturreferat die Aufmerksamkeit auf die Viertel fern der Innenstadt lenken will.

Mit dem spöttischen Gelächter von Henry Purcells Hexenchor beginnt die Musik, spiegelt die Reaktion der Menschen auf dem Platz. Oder ist diese Brechtsche Katharina selbst die Spötterin? "Nach deinem Urlaub in Indonesien hast du Malaria. Und Syphilis", lässt sie das Libretto von Thomas Jonigk schreien. Was folgt, ist ein zeitloses Gewirr von Drumbeats, barocken Arien und Cembalo. In den Mezzosopran von Martina Koppelstetter mischen sich die Straßengeräusche, die Gespräche der Vorbeigehenden. Und für die 20 Minuten, die die grandios-verstörende Vorstellung dauert, wird der Ort des Fernwehs zu einem Fokusglas, das auf das Hier und Jetzt blicken lässt, auf die Verlierer unserer Leistungsgesellschaft.

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