Kurzkritik:Kurkuma auf der Haut

Lia Rodrigues' neues Tanzstück in der Muffathalle

Von Carmen Kovacs

Stell dir vor, wir leben in einer Welt, in der wir einander begegnen. Und der erste Kontakt, der zwischen uns entsteht, ist ein durchdringender Blick. Aber die Wirklichkeit ist anders. Die brasilianische Choreografin Lia Rodrigues und ihre zehn Tänzer und Tänzerinnen versuchen es trotzdem. Die Welt ist krank, und deshalb brauchen wir Gegenentwürfe, utopische Gesellschaftsformen, Revolutionen. "For The Sky Not To Fall" ist Hilfeschrei und Rettung zugleich. Die erste Hälfte besteht aus ritualhaft inszenierten Handlungen: Kaffeepulver wird zu Häufchen geschichtet und zu duftenden Staubwolken geblasen. Die Kleidung muss gehen, das Pulver darf bleiben, und zwar auf der Haut.

In der unbestuhlten Muffathalle, in der sich das Publikum frei bewegen kann, setzen oder stellen sich die Bepuderten nun ganz nah zu einer auserwählten Person, keine Handbreit Abstand zwischen den Nasenspitzen, und lassen ihren Blick tief in fremde Augen fallen. Das ist gerade sehr in Mode, aber es trifft einen dann doch immer hart.

Die zweite Hälfte steht unter Strom: Die Zehn formieren sich zu einem Stammestanz, bilden eine Reihe und geben sich der Unerbittlichkeit des 2/4-Takts hin, den sie stampfend selbst erzeugen. Teilweise wieder bekleidet und blutrot bemalt, beginnen sie einen beschwörenden atavistischen Trance-Tanz, der mit der Heftigkeit seiner ausscherenden Bewegungen und dem repetitiven Vor-und Zurückfallen des Oberkörpers auch das Publikum erfasst. Auf der Haut glänzen Schweiß und Terrakotta. Wahnsinnslachen, Schlachtrufe - die Tanzenden scheinen besessen zu sein, der Exorzismus könnte beginnen. Aber darum geht es nicht. Die Idee, die ihre Körper ergriffen hat, beschreibt eine Utopie. Am Ende liegen sie, nun gelb mit Kurkuma bestäubt, sanft auf dem Rücken, mit Blick zum Himmel: Die Wirklichkeit gestalten wir.

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