Die Beschreibung des Kammerorchesters Wien-Berlin ist köstlich und regt zum mathematisch tagesaktuellen Sinnieren an: Ein Kammerorchester wird im Programmheft als die "Essenz" der Wiener und der Berliner Philharmoniker bezeichnet, welche die einzigen Orchester mit Anwartschaft auf den "Spitzenplatz" seien. Mit welcher Wahrscheinlichkeit umfasst das Kammerorchester die 17 besten Musiker der Welt? Entstanden ist das Kammerorchester aus dem "befruchtenden" Musizieren, als Simon Rattle die Wiener und Berliner "Klangkörper zusammenführte". Mit welcher Wahrscheinlichkeit kamen bei dieser klangkörperlichen Befruchtung männliche Ensemblemitglieder heraus? Wie viele Frauen gehören füglich zu den 17 besten Musizierenden der Welt? Antwort: a) 100 Prozent, b) 100 Prozent, c) 0. Dann betritt Anne-Sophie Mutter als 18. die Philharmonie, und es ist klar: Die Aufgabenstellung ist unzulässig.
Mutter stellt sich im kraftvoll blauen Kleid in die schwarz-weiß befrackte Herrenriege und beherrscht das Geschehen mit virtuoser Präsenz. Auf dem Programm stehen nicht weniger als drei Mozart-Violinkonzerte (Nr. 2, 3 und 5), zwischendurch nach der Pause die erste Symphonie. Viermal junger Mozart, viermal hinreißend und lebendig kommunikativ gespielt, bei allem Esprit auch den Tiefgang dieser Musik (etwa die gewisse Kühle des Adagios aus dem 5. Konzert oder die von Mutter fast vibratolos vorgetragene Eintrübung des Andantes aus dem 2. Konzert) nicht außer Acht lassend. Obwohl die Philharmonie bis hin zum Chorpodium vollbesetzt ist, entsteht dabei ein intimes Musizieren. Weil das Kammerorchester Wien-Berlin selbst für ein Kammerorchester klein besetzt ist, weil Orchester und Solistin oft einen herrlich federleichten und filigranen Ton pflegen, weil sie in diesem großen Rahmen mit einer sinngeschärften Ruhe agieren, als musizierten sie nur für sich. Besonders schön sind Anne-Sophie Mutters Kadenzen, denen sie die Ausdruckskraft kleiner Charakterstücke verleiht. Einfach wunderbar.