Kurzkritik:Exklusiver Ersatz

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Camerata Wien 1900 bei den Jüdischen Kulturtagen

Von Paul Schäufele, München

Nicht wenige Vorurteile sind zu Mahlers vierter Symphonie im Umlauf: Es ist die kürzeste, also sei sie wohl auch die leichteste, die der traditionellen Form am nächsten stehende, am Ende gar klassizistisch. Doch dass die Vierte nicht einfach die kindlich-naive neben den epischen Riesen-Symphonien ist, machte die "Camerata Wien 1900" im Eröffnungskonzert der 32. Jüdischen Kulturtage München hörbar. Das Ensemble aus Mitgliedern der Wiener Philharmoniker spielte die Fassung Erwin Steins.

Ein Streichquintett, drei Holzbläser, Schlagwerk, Klavier und Harmonium. Zwölf Instrumentalisten also in Vertretung für ein Symphonieorchester? Vielmehr ein exklusiv besetztes Musikerensemble, das die reduzierte Fassung nicht als Reduktion erscheinen lässt, sondern als Werk sui generis. So glaubwürdig klingt das schubertartige Thema des ersten Satzes nur in kammermusikalischer Besetzung. Noch spannender wird es, wenn es darum geht, die komplexen Handgriffe zu verfolgen, mit denen Mahler das scheinbar harmlose Musikmaterial bearbeitete, verfremdete, kombinierte - hier kann man es unter dem Vergrößerungsglas tun. Klangvolumen vermisst man nur an wenigen Stellen (ein Harmonium kann eine Horngruppe eben doch nur symbolisch vertreten). Deutlich wird dafür die radikale Modernität, die Mahlers Symphonie bei der Münchner Uraufführung 1901 auf Unverständnis stoßen ließ. Mit souveräner Flexibilität reagieren die Musiker auf die extremen Tempowechsel. Und auch der Totentanz des zweiten Satzes wirkt ohne die symphonische Polsterung doppelt skandalös: Hier rennt ein Gerippe mit verstimmter Geige durchs Dorf. Im Finale übernimmt die israelische Sopranistin Chen Reiss das Solo und findet die Balance zwischen irdischer Klangfreude und Zurückhaltung bis zum Verstummen.

Die 13 Musiker spielten ohne Dirigenten. Virtuell präsent war aber doch einer: Leonard Bernstein, dem der Abend gewidmet war. Ihm, dem Experimentierfreudigen, hätte es gefallen.

© SZ vom 19.11.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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