Kurzkritik:Ein guter Junge

Justin Bieber in der Olympiahalle

Von Michael Zirnstein

Es war richtig, das Shirt auszuziehen. Erstens ist's klatschnass, Justin Bieber hat unter einem künstlichen Wasserrohrbruch getanzt. Zweitens muss der Canadian Dreamboy einmal Muskeln und Tattoos zeigen, die das Kind zum Manne machen. Drittens kommt es so endlich zu echten Gefühlsausbrüchen in der Olympiahalle. Nicht bei Bieber, der zieht sein Einsamer-Star-Geschau durch, sondern bei den Fans. Nicht das angelernte Kreischen der 13 000, das jeden Powackler, jeden Griff ans Gemächt, jeden Blick ins Mädchenherz, also jede der vorangegangenen 100 Minuten zum Geschäft für HNO-Ärzte gemacht hat. Es ist der Neid, nicht mit dem triefenden Lappen beworfen worden zu sein; der Hass jener, die einen Zipfel erhascht haben, auf jene am anderen Zipfel; die Begierde auf die ultimative Trophäe. So schön kann Jugend sein. Eine Jugend, die Bieber nie hatte, der mit 15 ein Star war und nun mit 22 der begehrteste Pop-Jüngling der Welt ist.

Nun ist Bieber da, in Echt, aber irgendwie auch virtuell: Wie in einem 3D-Videospiel lässt er sich von Hebebühnen ab- und aufhieven, hopst durch Dampf, Laser und Feuerfontänen, wird aus Luken katapultiert, springt drei Salti auf einem schwebenden Trampolin. Er spielt ein Schlagzeugsolo, stolziert wie Tony Monero in "Saturday Night Fever", schmiegt sich an Tänzerinnen, sagt "Schnitzel", "Peace", "Honesty" und "Jesus Christ". Er ist ein guter Junge mit endlich ordentlichem Haarschnitt, auch wenn er auf seinem Pulli dem Gangster-Rapper Notorious B.I.G. huldigt.

Das alles ist viel. Aber es gibt keinen erkennbaren Grund dafür; keinen ästhetischen Geist wie bei Rihanna jüngst im Stadion. Wenn der musikalisch Hochbegabte hopst oder bedeutungsvoll schaut, kommt die Stimme vom Band. Mittendrin setzt sich Bieber allein auf ein Sofa. Er zupft ein paar Akkorde, wobei er auf die Greifhand schielt, daraus entwickelt sich ein pures "Love Yourself", dieses unfassbar ergreifende Stück Liebeskummer. Bieber singt es wirklich und scheint wenigstens einmal berührt zu sein.

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