Süddeutsche Zeitung

Kurzkritik:Der tiefe Sumpf des NSU

Christiane Mudras "Off The Record" im HochX

Von Egbert Tholl

Es dauert nicht lang, und man fragt sich, in welchen Irrsinn man denn da hineingeraten ist. Dieser Irrsinn kriecht einen in den Kopf, man sitzt im HochX auf gepolsterten Podesten, es ist dunkel, sehr dunkel und aus Lautsprechern, die einen umzingeln, dringen Stimmen ins Ohr. Die Stimmen reden miteinander, und was sie sagen, kann man mit gesundem Menschenverstand eigentlich nur als die bizarrsten Blüten aller möglichen Verschwörungstheorien begreifen. Das Krasse jedoch: Es ist alles wahr, verbürgt, belegbar.

Christiane Mudra glaubt an die politische Kraft von Theater. Deshalb beschäftigt sie sich in einer Trilogie mit dem NSU, der erste Teil hatte die Täter und Opfer zum Thema, der zweite, der nun seine Premiere im HochX hatte, untersucht das System. System heißt: Bundesnachrichtendienst, Verfassungsschutz, Ermittlungsbehörden, Justizbeamte, Journalisten und viele, viele V-Leute. "Papa, was ist ein V-Mann", fragt eine Kinderstimme zu Beginn ins Dunkel hinein. "Ein Verbrecher, der andere Verbrecher an den Geheimdienst verrät", antwortet der Papa. Von Verbrechern wird man in der Folge der nächsten 80 Minuten sehr viel hören.

Was Mudra da aufdröselt, ist extrem akribisch recherchiert und zeichnet ein monströses Tableau des Versagens der staatlichen Stellen, gewürzt mit einer großen Portion Vorsatz. Besser ist es, Einiges über den NSU bereits zu wissen, sonst glaubt man, man bekomme hier einen monströsen Bären aufgebunden. Denn die Dunkelheit erzwingt zwar eine hohe Konzentration auf das Live-Hörspiel, gleichzeitig wirken die Inhalte aber auch wie ein Raunen. Doch mit einem Blick ins ausgezeichnete Programmheft lässt sich auch noch der bizarrste Rechtsbruch verifizieren. Das Geflecht aus Neonazi-Umtrieben, deren Duldung bis hin zur Unterstützung durch die V-Leute wuchert ja hoch bis zum derzeitigen Leiter des Verfassungsschutzes Hans-Georg Maaßen. Mudra schneidet in ihr Hörpanoptikum immer wieder hart Videos, die vom Weg Deutschlands von den Zwanzigerjahren (Stummfilmzeit) bis zur Nazidiktatur künden. Ein notwendiges Menetekel.

Off The Record, von Christiane Mudra, bis Sonntag, 13. November; im Anschluss an die Aufführung am Samstag, 5. Nov., Podiumsdiskussion

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Quelle:
SZ vom 04.11.2016
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