Kurzgeschichten:Liebe oder Werk

Mit moralischen Geschichten, Vignetten und Auskopplungen aus seinem erfolgreichen Roman stellt der immer noch unverschämt junge Autor Benedict Wells seine stilistische und formale Spannweite unter Beweis.

Von Martin Ebel

Als "Spielwiese für zwischendurch" betrachte er diese Erzählungen, hat Benedict Wells selbst gesagt. Also zwischen dem Welterfolg "Vom Ende der Einsamkeit" und vor dem nächsten Roman. Das ist sicher die Wahrheit und doch auch ein bisschen, pardon, gelogen.

Denn der Erzählband "Die Wahrheit über das Lügen" zeigt erstens die große stilistische und formale Spannweite dieses immer noch unverschämt jungen Autors (geboren ist er 1984 in München als Sohn eines Deutschen und einer Schweizerin). Zweitens ist der Band klug komponiert: die erste und letzte Geschichte, jeweils über innerfamiliäres Verschweigen, Vermeiden und Verpassen, bilden einen Rahmen um ein gewichtiges Hauptstück, zwischen weiteren gibt es thematische und motivische Korrespondenzen. Und drittens behandelt er gewichtige Sujets in leichter Gangart - und lässt Einblicke in den eigenen kreativen Prozess zu.

Dieses Hauptstück (leider mit dem schrecklichen Titel "Das Franchise") ist eine Fantasie über eine Zeitreise. Da empfängt der milliardenschwere Filmproduzent Adrian Brooks einen jungen Journalisten und eröffnet ihm Unglaubliches: Nicht er selbst, sondern der "ganz vergessene" George Lucas sei der Erfinder von "Star Wars". Brooks, erfolgloser Skriptautor, sei nämlich aus dem Jahr 2016 mit einem Aufzug ins Jahr 1973 gefahren und habe beschlossen, George Lucas seine Idee zu stehlen, noch ehe sie ausgereift war: "Denn im Unterschied zu ihm kannte ich ja den fertigen Film."

Nun sind Zeitreisen ja aus logischen Gründen unmöglich (wie das "Großvaterparadox" und der "Schmetterlingseffekt" zeigen), wenn man sich nicht in parallele Wirklichkeiten flüchtet. Aber in der Literatur kann ja auch das Unmögliche gedacht und gestaltet werden. Und Wells denkt und gestaltet seine Idee, in die er als "Star Wars"-Fan und Kenner vielleicht ein bisschen zu sehr verliebt ist, schön aus, besonders witzig eben in Anwendung auf einen Science-Fiction-Stoff: Ein Mensch aus der Zukunft greift in die Vergangenheit ein. Und in der bleiben Lucas' "Indiana Jones"-Filme leider ungedreht.

Aus dem weiten Themenkreis Kreativität stammt auch die Erzählung "Die Muse", in der unter der Fantasy-Oberfläche die Frage behandelt wird, wie weit und auf wessen Kosten ein Künstler zu gehen bereit ist. Der Künstler ist hier eine Künstlerin, die Autorin Margo Brodie, die Muse hingegen männlich: ein schöner junger Mann mit blauen Locken, der Margo aus einer Schreibkrise heraushelfen soll.

Das gelingt, hat aber Konsequenzen: Die Muse verliebt sich, gibt ihr Privileg der Unsterblichkeit auf ("Er war vielleicht unsterblich, aber er hatte auch nie wirklich gelebt": das ist der Undinen-Stoff). Küsse und Sex mit der personifizierten Inspiration machen aus der blockierten Frau ein Genie, sie schreibt und schreibt, während sich die Inspirationsquelle, der Mensch gewordene Muserich, langsam auflöst. So sind halt die Regeln in Wells' Musenreich.

Liebe oder Erfolg also? Nein, ganz so schnöde stellt sich das Dilemma für Margo nicht dar, sondern: Liebe oder Werk. Der Künstler-Egoismus siegt, weil das Werk leben soll. Aber ist es nicht ein Egoismus, von dem die Welt profitiert, der das Werk sonst vorenthalten wurde?

So öffnen sich in fast vignettenkleinen Erzählungen größere Denk-Räume. Umgekehrt verdichtet Wells ein ganzes versäumtes Leben in einen einzigen Nachmittag. Im ersten Stück des Bandes macht Henry M., der große Unternehmensfusionen managt, auch in den Familienferien sein eigenes Ding. Als er von einer Bergtour verspätet zurückkehrt, sind Jahre vergangen, der Sohn ist tot, die Tochter weggezogen: Wells dreht hier das klassische Rip-van-Winkle-Motiv ins Moralische.

Nicht alle Geschichten halten diese Höhe - aber in welchen Erzählbänden ist das schon so? Zwei sind Auskopplungen aus dem "Ende der Einsamkeit"; man begreift, warum der Autor an ihnen hängt, begrüßt es aber nachträglich, dass sie aus dem Roman entfernt wurden.

Eine klassische Short Story in der Tradition Earnest Hemingways ist "Die Fliege": Indem der Mann sie im Cocktailglas ertränkt, besiegelt er das Ende seiner Ehe. Eher unausgereift und der Idee nicht ganz gewachsen wirken "Ping Pong" oder "Richard".

So sind die Spiele, die der Autor auf seiner Spielwiese spielt, bis auf ein paar schwächere Runden raffiniert angelegt, anspielungsreich und von nicht geringerer Ernsthaftigkeit als seine Romane. Und schlank und elegant geschrieben sind sie auch.

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