Nachruf auf Kurt Wölfel:Das Innere der Geschichte

Philologie als Gelehrsamkeit und Spaziergängerei: zum Tod des Literaturwissenschaftlers Kurt Wölfel.

Von Lothar Müller

In seinem Beitrag zu dem Sammelband "Wie, warum und zu welchem Ende wurde ich Literaturhistoriker?" (1972) berichtete Kurt Wölfel von dem verwunderten Interesse, mit dem er als Kind die großen Spiegel betrachtete, die vor Ausfahrten oder an unübersichtlichen Kurven aufgestellt waren. Er stellte diese Spiegel, in denen man gerade nicht sich selber sieht, der Obsession gegenüber, mit der er als Heranwachsender und noch als junger Wissenschaftler in der Literatur vor allem nach Spiegelungen der eigenen Existenz gesucht hatte.

Er war Jahrgang 1927, niemand in seiner Familie hatte bis dahin ein Gymnasium, gar eine Universität besucht. Ein Jahr nach Kriegsende hatte er zu studieren begonnen, "in einem untergegangenen Land, einer anscheinend zerstörten Zivilisation, in wütendem Hass auf die jüngste Vergangenheit und ihre politischen Repräsentanten". Die Literatur, seine ausgiebig konsumierte Droge, sollte mit alledem nichts zu tun haben, sie sollte "das schlechthin Abgewandte" sein.

Dabei blieb es nicht, die Literatur wurde für ihn zum Ausfahrtspiegel, in dem er die Bilder der bürgerlichen Gesellschaft entzifferte, jene Dimension, die er die "Innenseite ihrer Geschichte" nannte. Er studierte sie vor allem in ihrem Aufgang im 18. Jahrhundert, dem Zeitalter von Aufklärung und Revolution. Wie viele Autoren dieser Epoche, etwa der Göttinger Experimentalphysiker Georg Christoph Lichtenberg, schärfte er sein Bewusstsein durch Ausblicke nach England, wo er in Birmingham und Leicester als Lektor tätig war, 1964 wurde er Professor an der Universität Erlangen-Nürnberg. Das Fränkische war ihm nicht fremd, er stammte aus Würzburg.

Zu den Magisterarbeiten, die er betreute, gehörte jene von Monika Grütters

Jean Paul, der Autor, der früh ins Zentrum seiner Forschungen zu rücken begann, war im Fichtelgebirge, in Wunsiedel im östlichen Oberfranken geboren. In seinen gesammelten "Jean Paul-Studien" (1989) lässt sich nachlesen, wie er dabei vorging, wenn er etwa dem Republikanismus Jean Pauls und dessen Verhältnis zur Französischen Revolution nachspürte. Nicht die Meinungen des Autors in Briefen oder Gesprächsäußerungen stellte er ins Zentrum, sondern dessen Werke, er fragte nach dem Verhältnis von politischem Thema und poetischer Form.

In seiner eigenen Form des Schreibens blieb er dem Traum seiner Jugend, Schriftsteller zu werden, auf eine sehr gelehrte Weise treu. Wenn er über "Kosmopolitische Einsamkeit" und den Spaziergang als poetische Handlung bei Jean Paul schrieb, war im Ausfahrtspiegel des präzisen Kommentars ein virtuelles Selbstporträt versteckt. Von 1982 bis zur Emeritierung 1992 praktizierte er seine Art der Philologie, in der Gelehrsamkeit und Spaziergängerei einander die Waage hielten, an der Friedrich-Wilhelms-Universität in Bonn.

Zu den Magisterarbeiten, die er betreute, gehörte die der heutigen Staatsministerin für Kultur, Monika Grütters, über "Idylle und Unendlichkeit". Dass er gemeinsam mit seinem Mitarbeiter Thomas Wirtz zum Herausgeber des wunderbaren "Ideen-Gewimmels" (1996) aus Jean Pauls Nachlass wurde, passte zu ihm, auch, dass er im Wörterbuch "Ästhetische Grundbegriffe" den Eintrag zu "Capriccio/Laune" verfasste. Er schrieb beharrlich weiter, auch als er das Professorenamt formell los war, über das Trauerspiel der Aufklärung, eine so schmale wie konzise Schiller-Biografie, und auch von der Poetik des Spaziergangs mochte er nicht lassen. Am 9. August ist Kurt Wölfel in der Nähe von Bonn gestorben. Er wurde 94 Jahre alt.

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