Es kann heikel werden, wenn man das neue Buch eines älteren, hochverdienten Autoren zu besprechen hat. Soll man es kritisch unter die Lupe nehmen wie alle anderen Neuerscheinungen? Wirkte das nicht unangemessen, irgendwie peinlich? Andererseits, täte man es nicht, würde man den Eindruck erwecken, den Autor nicht mehr für voll zu nehmen, nur weil er eine gewisse Zeitgrenze überschritten hat. Dann verwandelte sich der Respekt vor dem Alter in Herablassung. Nun hat der Philosophiehistoriker Kurt Flasch, der unzählige gelehrte und überaus anregende Werke zur älteren und neueren Geistesgeschichte verfasst hat, eine neue Veröffentlichung vorgelegt. Er ist 91 Jahre alt. Zum Glück aber ist hier alles ganz einfach: Es ist schlicht ein interessantes, nachdenkliches Buch voller Überraschungen.
Flasch nimmt sich ein klassisches Thema vor und gibt ihm eine originelle Wendung. Er will das Verhältnis von Christentum und Aufklärung untersuchen, genauer gesagt herausfinden, ob eine Aufklärung des Christentums möglich sei. Dazu wählt er eine epochale Konstellation und analysiert eine faszinierende Quelle, die hierzulande kaum bekannt ist: über 200 Notizen, die sich Voltaire, der von 1694 bis 1778 lebte, zu den 800 Papieren gemacht hat, in denen Blaise Pascal, der von 1623 bis 1662 lebte, sein Verständnis der christlichen Religion niedergelegt hatte.
Anders als man es vielleicht vermutet hätte, sind dies keine Spöttereien, sondern Dokumente einer überaus ernsten Auseinandersetzung mit einer Theologie, die der Aufklärer zu überwinden suchte, weil er sich selbst als religiös, wenn auch auf andere Art, verstand. So war das Ringen mit Pascal für Voltaire das Medium seiner Suche nach einem neuzeitlichen, lebensdienlichen Glauben. Indem Flasch den literarischen Dialog zwischen diesen beiden inszeniert, geht er zugleich einer eigenen Lebensfrage nach. Wie er im Vorwort schreibt, hatte er nach dem zweiten Weltkrieg, der seine Familie hart getroffen hatte, eine Phase der Pascalbegeisterung. In den Jahren der Not, des Leidens und Grübelns wollte er "diese verdammte Welt verstehen, konnte es aber nicht". Da stieß er auf Pascal: "Erklärte mir seine Rede vom dunklen, verborgenen Gott, was ich übermächtig erfahren hatte, nämlich daß Gewalt und Lüge die Welt regieren?"
Pascal schloss sich dieser gnadenlosen Gnadenlehre an, weil er ihre Widersinnigkeit durchschaut hatte
In der Nacht des 23. November 1654 hatte Pascal eine religiöse Eingebung, die er so bezeugte: "Feuer - Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, nicht der Philosophen und Gelehrten." Flasch zeigt, dass es weniger der Jahwe der alttestamentlichen Urvater war, der Pascal "Gewißheit, Freude und Friede" schenkte, als die Theologie des späten Augustin. Diese hatte Flasch schon in seinem Buch "Logik des Schreckens" (1995) einer präzisen Ideologiekritik unterzogen. Der späte Augustin war der Erfinder einer Erbsündenlehre, nach der alle Menschen den göttlichen Zorn verdient haben, weil sie "in Adam" gesündigt haben - denn die Ursünde des ersten Menschen wird durch den Geschlechtsakt, wie ein metaphysisches HI-Virus, von Generation zu Generation weitergegeben. Alle sind deshalb der Verdammung würdig bis auf ganz wenige, die Gott vor Beginn der Welt zum Heil bestimmt hat.
Pascal schloss sich dieser gnadenlosen Gnadenlehre an, obwohl - nein, weil er ihre Widersinnigkeit durchschaut hatte. Denn für ihn war das menschliche Elend so übermächtig, dass es nur durch diese abgründige Doktrin erklärt werden konnte. Nur so ließ sich für ihn auch die Gerechtigkeit Gottes retten. Denn wie sonst sollte man das Leiden unschuldiger Kinder heute verstehen - es sei denn, diese wären gar nicht unschuldig, sondern Sünder, die der Zorn Gottes zu Recht trifft? So wagte Pascal mit befremdlicher Lust am Paradox einen halsbrecherischen Sprung in einen schrecklichen Glauben: "Diese Verrücktheit ist weiser als alle Weisheit der Menschen. Sein ganzer Zustand hängt ab von diesem unbegreiflichen Punkt."
So abstoßend diese Lehre ist, so faszinierend kann sie auch wirken. Voltaire jedenfalls hat sich sein Leben lang an ihr abgearbeitet und mit Pascal gerungen. Dabei zielte er auf eine freiere Auffassung der Religion, nicht auf deren Vernichtung. Deshalb wollte er ähnlich wie später der aufgeklärte Protestantismus in Deutschland die augustinische Verzerrung des Glaubens überwinden. Anders jedoch als ein beliebtes Klischee konservativer Theologen behauptet, vertrat er dabei keine optimistische Weltsicht oder ein "oberflächliches" Glaubensverständnis. Wer wollte hier auch das "Tiefe" oder das "Flache" ausmessen?
Voltaire, so zeigt Flasch, bewies mehr Ernsthaftigkeit und Verantwortungsbewusstsein als Pascal, weil er angesichts der Rätsel der Welt nicht ins Paradox flüchtete, sondern sich elementaren Fragen stellte. Wenn Pascal forderte: "Man anerkenne die Wahrheit der Religion in der Dunkelheit der Religion", hielt er dagegen: "Das sind seltsame Kennzeichen der Wahrheit. Wodurch unterscheidet sie sich dann von der Lüge?" Wenn Pascal deklarierte: "Gott ist verborgen. Daher ist keine Religion, die nicht sagt, dass Gott verborgen ist, die wahre", entgegnete er kühl: "Warum immer darauf aus sein, dass Gott verborgen sei? Es wäre doch viel schöner, er wäre manifest." Und gegen Pascals Dämonisierung des Gottesbildes setzte er dieses Glaubensbekenntnis: "Man muß die Geschöpfe lieben, und zwar sehr zärtlich. Man muß sein Vaterland lieben, seine Frau, seinen Vater, seine Kinder. Man muß sie so sehr lieben, da Gott macht, daß wir sie gegen unsere Interessen lieben. Die gegenteiligen Prinzipien führen zu nichts als barbarischen Nörgeleien." Deshalb reduzierte Voltaire den Glauben auf das für ihn Wesentliche. Er konzentrierte ihn auf das, was dem Leben dient: "Das Christentum lehrt nichts als Einfachheit, Menschlichkeit, Nächstenliebe."
Flasch nimmt im Buch manches aus älteren Veröffentlichungen wieder auf. So hatte er 2008 in "Kampfplätze der Philosophie. Große Kontroversen von Augustin bis Voltaire" einen Vorgeschmack seiner Pascal-Voltaire-Deutung gegeben. Nun versenkt er sich viel tiefer in diese Auseinandersetzung. So ist ein Arbeitsbuch entstanden, das manchmal wie ein Zettelkasten wirkt, viele Umwege nimmt, bohrt, wühlt und grübelt. Einiges erinnert an seine scharfsinnige und erfolgreiche Kritik deutscher Vermittlungstheologien "Warum ich kein Christ bin" (2013), doch ist der Ton ein etwas anderer. Denn mit unverkennbarer Sympathie begleitet Flasch seinen "Helden" bei dessen Versuchen, eine Umformung des Christentums zu gestalten und es von einer menschenfeindlichen Ideologie wieder zurück in einen einfachen, guten Glauben zu verwandeln. Auf die Frage jedoch, ob Voltaire dies am Ende gelungen ist, gibt Flasch keine Antwort. Sinnvollerweise, denn auch die Aufklärung des Christentums ist eine lebenslange, individuelle Aufgabe mit offenem Ausgang. Es genügt schon zu erkennen, mit welchem Einsatz Voltaire sich ihr gewidmet hat.