Süddeutsche Zeitung

Kunstschau in Kassel:Die ratlose Stadt

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In Kassel laufen die Vorbereitungen für die große Kunstschau Dokumenta 15. Geld ist da, Personal auch, aber sonst sehr wenig.

Von Ingo Arend

Meine Vorfreude auf die nächste Documenta wächst", steht auf dem gelben Haftzettel. Er klebt auf der Pinnwand der Documenta-Dauerausstellung in Kassels Neuer Galerie. Allerdings: im grauen Nieselwetter sucht man unter den Maskierten, die sich in der Fußgängerzone von Kassel ums Abstandhalten bemühen, vergeblich nach dem Flair der als "Weltkunstschau" apostrophierten Ausstellung, die alle fünf Jahre in der nordhessischen Stadt ausgerichtet wird.

In anderthalb Jahren soll es wieder so weit sein. Doch die Passanten würdigen weder den Obelisken von Olu Oguibe eines Blickes, der nach heftigem Streit an der Treppenstraße zwischen Kulturbahnhof und Friedrichplatz aufgestellt wurde, noch kümmern sie sich groß um den kursiv gesetzten Schriftzug "fifteen", der auf die Schaufenster eines leer stehenden Kaufhauses für Sportartikel gesprüht wurde. Dabei hat sich ausgerechnet dort die indonesische Künstlergruppe "Ruangrupa" einquartiert, die im Februar 2019 zur künstlerischen Leitung der Documenta 15 berufen wurde.

Damals war die Sensation perfekt. Nachdem die Documenta 14 in einer Lokalposse, im medienwirksam geführten Streit um die Finanzen und das künstlerische Erbe geendet hatte, nachdem der Kurator Adam Szymczyk und die Geschäftsführerin Annette Kuhlenkampff verschlissen die Stadt verlassen hatten, inszenierte man einen Neuanfang. Zum ersten Mal sollte die Documenta von einem Künstlerkollektiv geleitet werden, noch dazu von einem aus Asien. Die Umwidmung des Arena-Kaufhauses zum Hauptquartier "ihrer" Documenta war eine der ersten Amtshandlungen der Gruppe. Mitten im Alltag wollten sie ihren Standort haben.

Merkwürdig ist nur, dass das Haus, mit dem sie auf Tuchfühlung mit den Kasselanern gehen wollen, tagsüber geschlossen ist. Und im Vergleich mit Adam Szymczyks Programm, mit dem achtzehn Monate vor der Eröffnung in Athen und Kassel das Publikum eingestimmt wurde auf die nahende Weltkunstschau, ist es beunruhigend ruhig in der Stadt.

Sabine Schormann ficht das nicht an. Vor gut zwei Jahren hat die 58-jährige Kulturmanagerin das Zepter bei der Documenta-GmbH übernommen. Bei der Documenta laufe alles nach Plan, versichert sie ihrem Besucher bei einem Gespräch im gebotenen Abstand im Café des Fridericianum.

Anders als ihre Vorgängerin trägt Sabine Schormann seit ihrer Berufung den Ehrfurcht heischenden Titel Generaldirektorin.

Schormann, gelernte Literaturwissenschaftlerin und zuletzt 18 Jahre lang Direktorin der niedersächsischen Sparkassenstiftung, kämpft derzeit an vielen Fronten. Die globale Pandemie hat natürlich auch die Documenta samt dem zehnköpfigen Kuratorinnenteam ins Home-Office gezwungen, Recherchereisen und Atelierbesuche fallen flach.

Das letzte Online-Meeting umfasste vier Kontinente, 18 Länder, 37 Parteien, 70 Teilnehmer und dauerte drei Stunden. "Das war schon eine Herausforderung", sagt Schormann lachend. Dass die Documenta jetzt wegen Corona verlegt werden müsste, sehe sie derzeit aber nicht. "Der Termin Juni 2022 steht", erklärt sie mit Nachdruck.

Anders als Annette Kulenkampff, ihre, wegen angeblicher Verfehlungen, die Vorwürfe sind mittlerweile widerlegt, aus dem Amt gedrängte Vorgängerin, trägt Schormann seit ihrer Berufung den Ehrfurcht heischenden Titel Generaldirektorin. Das hat nicht nur damit zu tun, dass der Etat der Documenta nach dem Finanzdebakel 2017 von 37 auf 42 Millionen Euro aufgestockt wurde. Sondern auch damit, dass die Kulturmanagerin die bislang überschaubare Documenta, die in einem alten Schulgebäude hinter dem Fridericianum hauste, zu einem kleinen Imperium umbauen soll.

Sichtbarster Ausdruck dieser Aufwertung ist die Gründung des lange geplanten Documenta-Instituts. In dem vom Bund mit 12 Millionen, dem Land Hessen und der Stadt Kassel mit je sechs Millionen Euro geförderten Forschungszentrum sollen drei Professorinnen demnächst die Documenta-Geschichte erforschen. Lokale Querelen haben es zwar bislang verhindert, einen Standort für ein neues Gebäude festzulegen. Doch der emeritierte Kasseler Soziologe Heinz Bude, der im August als Gründungsdirektor berufen wurde, hat schon sein Büro im Dock 4, dem Sitz der Documenta-GmbH, bezogen.

Wie zäh derweil die Vergangenheitsbewältigung in Kassel angegangen wird, lässt sich an der neuen Dauerausstellung "about: Documenta" ablesen.

Kern des neuen Instituts ist das Archiv. Gerade hat Brigitta Coers, dessen neue Direktorin, eine "Erschließungsoffensive" für den gewaltigen Bestand angekündigt: 560 Meter Akten, 50 Terabyte digitale Medien und 42 000 Medieneinheiten. 5,4 Millionen Euro haben das Land Hessen und die Stadt Kassel für die Kraftanstrengung locker gemacht. Zwei Abteilungsleiter des Archivs haben das Haus zwar gerade im Streit verlassen. Doch etliche neue Mitarbeiterinnen wurden auch neu eingestellt.

Anders als die Berlinale, die die NS-Vergangenheit ihres Gründungsdirektor Alfred Bauer binnen Jahresfrist in einem Gutachten aufarbeitete, will Schormann die Aufgabe, die im vergangenen Jahr bekannt gewordenen NS-Verstrickungen der Gründergeneration der Documenta zu erforschen, dem neuen Institut zuweisen. Das kann sich hinziehen. Schließlich existiert es noch nicht wirklich. Wie zäh derweil die Vergangenheitsbewältigung in Kassel angegangen wird, lässt sich an der neuen Dauerausstellung "about: Documenta" in der Neuen Galerie ablesen. Ein Jahr nach dem Bekanntwerden der Fälle fehlt dort immer noch jeder Hinweis auf die NSDAP-Mitgliedschaft von Werner Haftmann, dem wichtigsten Mitarbeiter von Documenta-Gründer Arnold Bode. "Sehr ärgerlich" findet das sogar Harald Kimpel, der an der Schau mitgewirkt hat.

Der Kasseler Kunsthistoriker überrascht mit einer ungewöhnlichen Idee. "Das Documenta-Institut ist in der Cloud" sagt ausgerechnet der 70-jährige Doyen der Documenta-Forschung beim Gespräch. "Junge Forscher in der ganzen Welt tauschen sich ohnehin ständig über die Documenta aus. Sie arbeiten und treffen sich bei Bedarf in Kassel. Da braucht man gar kein eigenes Gebäude. Das könnte ein gut ausgebautes Archiv leisten", kommentiert Kimpel die endlose Debatte über den Standort.

Befürchtungen, dass die Infrastruktur der Documenta, schon jetzt zählt sie rund 60 Mitarbeiter, in Zukunft deren Kuratoren in den Schatten stellen könnte, sieht Sabine Schormann nicht: "Ich sehe mich als Ermöglicherin", stellt sie die Rollenverteilung klar. "Im Zentrum steht auch in Zukunft die Künstlerische Leitung."

In umgekehrt proportionalem Verhältnis zur Ausdehnung der Institution Documenta steht bislang das inhaltliche Konzept ihrer fünfzehnten Ausgabe. "Lumbung" - das indonesische Wort für eine Reisscheune, in der Bauern gemeinsam ihre Ernte lagern -, passt dafür hervorragend in die Zeit, wo mit der Pandemie die Frage nach einer neuen Solidarität überlebensgroß im Raum steht. In den Social-Media-Kanälen kursiert immerhin ein erstes Logo in Gestalt vielfach verschlungener Hände - eine Gemeinschaftsarbeit von Studierenden aus Jakarta mit einer Berliner Design-Agentur. Ob man sich unter dem ganzen Ansatz aber mehr vorzustellen hat als eine Art soziokulturelles Get-together, ist aber noch nicht auszumachen.

Aber womöglich ist der soziokulturelle Strampel- nur ein raffinierter Tarnanzug.

Austausch, Vernetzung und Prozess sind die am meisten gehörten Vokabeln, die Ruangrupa-Mitglied Reza Afisinia benutzt, als er seinem Besucher im Office des riesigen, seltsam leeren Gebäudes die Idee der Schau erklärt, flankiert von Documenta-Generalkoordinatorin Andrea Linnenkohl und der Kasseler Pädagogin Ayşe Güleç, die seit einem Jahr zum Team gehört. Zum Beweis öffnet Reza die Tür und zeigt auf einen Raum voller Fahrräder, eine Art Bike-Sharing-und-Repair-Point.

Im Erdgeschoss des -Hauses haben Kasseler Studierende ein Diagramm aufgehängt, auf dem sie nachzeichnen, wie die Documenta die Stadtplanung der Stadt beeinflusst. In dem Haus selbst sollen Künstler, Studenten und Aktivisten gemeinsam "Nongkrong" praktizieren, der indonesische Ausdruck für Abhängen, Herumgammeln, Chillen. Vor den wie von Kinderhand gezeichneten Erklär-Comics auf der Glasfront des Gebäudes kann Kunstkennern schon mulmig werden: "Lumbung ist Erleben der Gemeinschaft. Hierarchien werden abgelehnt. Lumbung ist Notwendigkeit und Einheit. Das Gemeinwohl steht an erster Stelle" steht da in Pastellfarben. Zur Kasseler Museumswoche im Herbst hatte Ruangrupa einen jugendkulturellen Fußballverein, einen Plattenladen, das Projekt "Essbare Stadt" und Künstlerkollektive eingeladen.

Die Reaktionen auf das Konzept gehen in Kassel auseinander. "Ich finde den Prozess sehr spannend" freut sich Jörg Sperling, pensionierter Schuldirektor und seit Anfang 2018 Chef des noch von Arnold Bode 1972 als Förderverein gegründeten "Documenta Forum". "Das erinnert so ein bisschen an Mitmachkunst", sagt der Kasseler Künstler und Grafiker Jörn Peter Budesheim, Jahrgang 1960, der an der Kasseler Kunstakademie studiert hat und Mitbetreiber von Kassels ältester Produzentengalerie "Kunstbalkon" ist.

"Für mich hat Kunst nicht nur etwas mit Prozess und sozialer Interaktion, sondern immer noch etwas mit Schönheit zu tun", gibt er beim Gespräch im Café des Fridericianum skeptisch zu Protokoll. Und auch Sperling treibt trotz aller Begeisterung die Sorge um: "Wo bleibt da die Kunst?" Aber womöglich ist der soziokulturelle Strampel- nur ein raffinierter Tarnanzug. Denn auch wenn Reza Afisinia im Gespräch auftrumpft mit Ansagen wie "Uns geht es um ein Netzwerk des Lernens jenseits der klassischen Repräsentation", und "Die Geschichten, die wir gemeinsam entwickeln, müssen nicht zwingend in Objekte münden" - so wird auch er im Juni 2022 mit der Documenta 15 doch wieder einen Kunstparcours eröffnen. Denn, irgendwie versehentlich, entweicht ihm dann doch das Wort "Künstlerliste".

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Quelle:
SZ vom 07.11.2020
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