Süddeutsche Zeitung

Kunstschau:Groß, größer, am größten, China

In einer Mammutausstellung präsentieren acht Ruhrgebietsstädte 120 chinesische Künstler. Darunter sind, jaja, auch systemkritische, nur eben nicht ausschließlich gute.

Von Tim Neshitov

Zwei Mädchen im Bett mit einem Sozialismus-Lehrbuch. Sie tragen kurze Nachthemden, die Bettwäsche ist rosa, auf dem Kissen liegt Spielzeug von McDonald's, dieses Plastikmännlein mit knallroter Mütze und Handwerkerschnauzer, der auch Pornoschnauzer sein könnte. Die Mädchen rekeln sich, legen sich gegenseitig den Kopf auf den Bauch, die Kamera schwenkt von ihren kichernden Mündern auf ihre Unterwäsche, 23 Minuten lang. "Die Natur des Sozialismus wird durch öffentliches Eigentum bedingt", lesen sie vor. "Proletarische Revolution ist ein historischer Fortschritt, der sich unaufhörlich bewegt."

Dieses Video des chinesischen Künstlers Yang Zhengzhong kann man sich bis Mitte September im Skulpturenmuseum Glaskasten Marl ansehen, als Teil einer China-Ausstellung, an der sich neun Museen in acht Städten an Rhein und Ruhr beteiligen. Die Kuratoren legen Wert darauf, dass es sich dabei um die bislang größte Schau chinesischer Gegenwartskunst weltweit handelt. Es sind 120 Künstler vertreten.

Die Museen haben Chinas Kunst nach Sparten aufgeteilt: Fotografie im Museum Folkwang, Kalligrafie und Tuschemalerei in Gelsenkirchen, Skulptur im Lehmbruck Museum in Duisburg. Marl zeigt Videokunst. Diese entstand in China erst Ende der Achtziger mit einem Video, das heute an chinesischen Kunstakademien Kultstatus genießt. Der Künstler, Zhang Peili, lässt einen Spiegel fallen, den er wieder zusammenklebt - um ihn wieder fallen zu lassen, mehrmals. Sisyphus-Arbeit, strapazierte Geduld, das war alles kurz vor dem Massaker am Platz des Himmlischen Friedens 1989 sehr aktuell. Heute dokumentieren chinesische Videokünstler die Umweltvernichtung, den Luxus der wenigen in den wuchernden Metropolen, die Einsamkeit der vielen.

Yang Zhengzhongs Mädchenvideo verdient Aufmerksamkeit, nicht nur, weil es die Grenzen der Kinderpornografie auslotet. Nebenbei zeigt es auch den irren Druck auf chinesische Schüler vor Abschlussprüfungen. Aber das Wichtigste, das Unübersehbare: Yang, Jahrgang 1968, findet das ganze politische System zum Kotzen: Eine sklerotische Ideologie vergeht sich an den Köpfen der Kinder. Es ist ein subversives, ekelerregendes Video.

Da es bei westlichen China-Schauen immer auch um Systemkritik, Zensur und Ai Weiwei geht, ja gehen muss, da China eine Diktatur bleibt, empfiehlt sich ein Blick auf die Entstehungsgeschichte dieser Schau. Walter Smerling, der Gesamtkurator von China 8 und Direktor des Museums Küppersmühle, veranstaltete bereits 1996 eine Ausstellung chinesischer Kunst in Bonn. Nun, sagt er, wollte er wissen, wie sich die Kunst in den vergangenen zwei Jahrzehnten entwickelt habe.

Der kuratorische Gedanke hinter China 8 wäre damit sehr einfach: Die Vielfalt zeigen. Smerling und sein Team reisten nach China und besuchten 200 Künstler - ohne behördliche Begleitung, wie sie betonen. Auch sei aus China kein Geld geflossen. Die Mittel kommen aus Deutschland, vor allem von der Brost-Stiftung der WAZ-Gründer Erich und Anneliese Brost und von der Evonik Industries AG, einem in China aktiven Chemieunternehmen.

Walter Smerling spricht kein Chinesisch, aber er kann davon schwärmen, wie "China uns hilft, die museale Dichte des Ruhrgebiets zu erleben". Besuchern stehen kostenlose Shuttlebusse zur Verfügung, die zwischen all den Museen hin und her flitzen. Dass Smerling 1999 mit einer Ausstellung in Bonn zwei Millionen Mark in den Sand setzte, scheint seinem Renommee an der Ruhr nicht geschadet zu haben.

Vizekanzler Sigmar Gabriel, der die Ausstellung am Mittwochabend eröffnete, war voll des Lobes: "Fantastisch." Er stand vor einem riesigen Gemälde des derzeit teuersten chinesischen Malers, Zeng Fanzhi, und sagte: "Kunst und Kultur haben ihren eigenen Stellenwert, und wir sollten sie nicht zu dem einzigen Gesellschaftsbereich machen, der sich an einem anderen, in diesem Fall an der Wirtschaft zu rechtfertigen hat." Das Gemälde hinter ihm ist eine Abwandlung von Dürers "Kopfstudie eines alten Mannes" in psychedelischen Farben und mit Dornensträuchern.

Ai Weiwei ist bei China 8 nicht dabei. Aber nicht, weil Smerling ihn nicht eingeladen hätte, sondern weil Chinas bekanntester Künstler sich mit Gruppenausstellungen schwertut. Ai Weiwei darf nicht ausreisen, aber eines seiner Werke, das Smerling ausgesucht hatte, wurde von den Behörden sogar zur Ausfuhr genehmigt. Es wurden überhaupt alle 500 Kunstwerke genehmigt, die er und seine Kollegen in China ausgesucht hatten, sagt Smerling.

Wer nach Systemkritischem sucht, wird hier nicht enttäuscht sein. In der Fotoausstellung zeigt man sogar das aufwieglerische "Blut der Welt" von Wang Qingsong, ein Schlachtengemälde mit vielen Nackten und einer französischen Fahne auf einem Hügel. Die Negative dieses Fotos beschlagnahmte die Regierung bereits 2006, aber im Museum Folkwang darf es wandfüllend hängen. In der Kunsthalle Recklinghausen zeigt der Shanghaier Maler Zhou Zixi seine erfundenen Denkmäler, die gefolterten Andersdenkenden gewidmet sind.

Und doch, wenn man sich die größte China-Ausstellung aller Zeiten angesehen hat, drängen sich einige Fragen auf. Zuerst die ewige: Müssen Chinas Künstler Dissidenten sein, damit man sie im Westen als Künstler ernst nimmt? Zu den Highlights dieser Ausstellung gehören einige sehr unpolitische Gemälde von Zhang Enli, der bunte Fäden malt. Oder die Arbeiten des Hongkonger Fotografen Eason Tsang Ka Wai, der Wolkenkratzer abbildet.

Nächste Frage: War es eine gute Idee, noch eine Ausstellung über chinesische Kunst auf die Beine zu stellen, nachdem es seit dem Beginn des China-Hypes schon einige gegeben hat? Ja. China ist ein großes Land, in dem sich vieles tut.

War es aber eine gute Idee, diese Ausstellung allein durch ihren Umfang herausheben zu wollen? Nein. So viel sehenswerte Kunst gibt es auch in China nicht. Diese Ausstellung zeigt denn auch viel fröhlichen Quatsch und viel schwierige Selbstsuche. Walter Smerling betont, er hege keinen enzyklopädischen Anspruch, er wolle den individuellen Blick der Kuratoren auf Chinas Gegenwartskunst präsentieren. Diesem Blick fehlt aber jeglicher Fokus.

Ein Gegenbeispiel: Der Schweizer Sammler Uli Sigg, der wohl beste Kenner der chinesischen Gegenwartskunst, dessen Wissen enzyklopädischen Charakter anzunehmen scheint, veranstaltete vor einigen Monaten in den Hamburger Deichtorhallen eine klug komponierte, bescheiden präsentierte Ausstellung zur Kalligrafie in China, "Secret Signs". Eine sogenannte Schwerpunktausstellung, mit einer Frage im Mittelpunkt: Was passiert mit einer Gesellschaft, wenn ihr einzigartiges Schriftsystem zerstört wird, weil keiner mehr schreibt und alle nur noch lateinische Buchstabenkombinationen eintippen, die sich auf dem Bildschirm automatisch in Schriftzeichen verwandeln? An der Ausstellung in Hamburg nahm übrigens auch Ai Weiwei teil. Er präsentierte Einträge aus seinem Blog, den er bis 2009 noch führen durfte. Er setzte seine damals auf dem Rechner getippten Sätze nun aus Zeichen zusammen, die er alten Schriften von Kalligrafie-Meistern entnahm.

Es gibt eine wichtige Erkenntnis, die Walter Smerling im Ruhrgebiet mit dem Publikum teilen möchte: Chinesische Gegenwartskunst hat endlich zu ihrer eigenen Sprache gefunden. Sie imitiert immer weniger Andy Warhol, sie ist nachdenklicher geworden, souveräner. In der Kunsthalle Recklinghausen sieht man neue Arbeiten von Yue Minjun, einem der begabtesten Künstler Chinas, den das breite Auslandspublikum vermutlich nur deswegen nicht kennt, weil er kein Politaktivist ist. Auf den Kunstmärkten wurde er berühmt (und reich) mit seinen Bildern, die lauter zynisch lachende Gesichter zeigen. Bei China 8 zeigt er verträumte, schwarz-weiße Ölgemälde, auf denen keiner lacht.

Es wäre eine Schwerpunktausstellung wert, die Genese dieses einen Künstlers zu verfolgen, und mit ihm vielleicht von einer Handvoll anderen, in einem überschaubaren Raum, sodass man sich die Namen merken kann. Wie fanden Chinas Künstler zu ihrer individuellen Sprache? Wie haben sie sich durch die Spielräume navigiert, die ihnen die Kommunistische Partei lässt? Diese Fragen lässt China 8 offen.

Fragt man den aus Hangzhou angereisten Maler und Konzeptkünstler Qiu Zhijie, wie es ihm geht, nachdem Chinas Staatschef im Herbst alle Künstler aufrief, dem Volke und dem Sozialismus zu dienen, grinst er. Er macht eine Bewegung mit der Hand, die Puppenspieler machen, wenn sie den Mund ihrer Figuren aufmachen. Auf und zu, und auf und zu.

China 8. Zeitgenössische Kunst aus China an Rhein und Ruhr. Bis 13.September 2015.

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Quelle:
SZ vom 15.05.2015
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