Süddeutsche Zeitung

Der Kunstraub von Gotha:Unser Stolz

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Von Lothar Müller

Sie sind zurück!" Nur noch an diesem Wochenende sind unter diesem Motto die fünf 1979 geraubten Gemälde im Herzoglichen Museum zu Gotha in einem Raum versammelt. Wer ihn betritt, wird eingehüllt in ein dichtes Gespinst von Geschichten. Die Experten im Forschungslabor in Berlin haben die Echtheit der Gemälde erwiesen und ihre Beschädigungen analysiert, der Gothaer Oberbürgermeister Knut Kreuch (SPD) hat bei der ersten öffentlichen Präsentation in Berlin berichtet, wie sie ihm im Sommer 2018 von einer westdeutschen Erbengemeinschaft angeboten wurden und es ihm im Verein mit der Ernst Siemens Kunststiftung und einer Berliner Kunstanwältin gelang, die Gemälde zurückzuholen, ohne dass - außer für Anwaltskosten und Logistik - Geld an die Anbieter floss (SZ vom 18. Januar).

Wie genau der Weg der Bilder in den Westen verlief und in wessen Wohn- und Speisezimmer sie hingen, blieb dabei vorerst im Dunkeln.

Nun, in Gotha, überlagern sich Kriminalgeschichte, Kunstgeschichte, Stadtgeschichte und die Geschichte der DDR. Die Bilder rücken ein in die Sammlungsgeschichte, der sie entstammen, und zugleich treffen sie auf die Erzählungen, die im Stadtraum über sie kursieren. Die ältere Generation stellt die übergroße Mehrheit der Besucher in der Sonderpräsentation, viele haben noch Erinnerungen an den spektakulären Raub in der Nacht zum 14. Dezember 1979. Das erste Gemälde an der linken Wand, Bildnis eines unbekannten alten Mannes, wurde lange dem Rembrandt-Schüler Jan Lievens zugeschrieben, seit Neuestem eher Ferdinand Bol, einem anderen Rembrandt-Schüler. Auch für Laienaugen sind die Kratzspuren neben dem vom Alter gezeichneten runzeligen Gesicht mit der großartigen Augenpartie unübersehbar.

Die Stasi und die Dachrinne: Über den größten Kunstraub der DDR kursieren hier wildeste Theorien

Zu diesen Kratzspuren hat ein älterer Herr aus Gotha, der die Bilder betrachtet, eine Theorie. Sie besagt, dass sie auf dem Schlachthof entstanden, in den die Diebe ihre Beute noch in der Nacht brachten, nachdem sie von der Außenfassade in den Westflügel des Schlosses Friedenstein eingedrungen waren. "Dort standen immer die Viehtransporte von Marox und Moksel". Es ist für diese Theorie von Bedeutung, dass es sich dabei um einen westdeutschen Fleischkonzern handelt. Denn ihr zufolge war der nie aufgeklärte Kunstraub eine Auftragsarbeit, bei der es darum ging, die Gemälde zwecks Devisenbeschaffung an vorab kontaktierte Kundschaft in der Bundesrepublik zu liefern. Organisator des Ganzen war Alexander Schalck-Golodkowski, Chef "Kommerzielle Koordinierung" (KoKo). Ein Indiz: Die Stasi habe in ihren zu DDR-Zeiten nicht veröffentlichten Untersuchungen herausgefunden, dass für eines der beim Einbruch verwendeten Steigeisen Material verwendet worden sei, das es in der DDR gar nicht gab.

Der Zufall führt an diesem Donnerstag jenen älteren Besucher und den Kunsthistoriker Tobias Pfeifer-Helke, seit gut einem Jahr Direktor der Stiftung Schloss Friedenstein, vor dem Bildnis des alten Mannes zusammen. Er kennt die Schalck-Golodkowski-Geschichte und sagt zu dem älteren Herrn: "Ihre Theorie ist möglicherweise falsch." Die Laboruntersuchungen in Berlin haben ergeben, dass beim unsachgemäßen Transport die Hängeösen anderer Gemälde Kratzspuren nicht nur auf dem Bildnis des alten Mannes hinterlassen haben.

Die Stasi war ein zentraler Akteur in Gotha nach dem Kunstraub. Sie nahm die Verhöre nach den ihr eigenen Methoden vor, streute Verdächtigungen, versuchte Geständnisse zu erpressen und Informelle Mitarbeiter anzuwerben, sodass ein Gesamtklima des Verdachts entstand, das alles Sprechen über den Kunstraub in der Bevölkerung in eine Risikozone verwandelte. Nun kehren mit den Gemälden die Geschichten von damals zurück. Sie handeln von aufsummierten Verlusterfahrungen.

Der größte Kunstraub der DDR, gedeutet als maskierter West-Export im Interesse der Staatsführung, nahm den Gothaern Glanzstücke ihrer ohnehin nach 1945 durch Amerikaner und vor allem Russen dezimierten Sammlung. Ja, die Geschichte von Schloss Friedenstein seit dem Zweiten Weltkrieg ist in der Tat eine Verlustgeschichte, sagt der Stiftungsdirektor. Das Brustbild eines schwarz gekleideten jungen Mannes, das nun, nach den Berliner Untersuchungen, dem Meister Frans Hals selbst und nicht lediglich seiner Werkstatt zugeschrieben wird, gehörte zu den Beständen, die 1958 aus der Sowjetunion zurückkehrten. Da war das 1879 eröffnete Herzogliche Museum, ein opulenter klassizistischer Bau des Historismus, längst zum Naturkundemuseum geworden, die wenigen verbliebenen Kunstobjekte waren ins Schlossmuseum gewandert und wurden in den Horizont der Regionalgeschichte eingefügt. Erst seit 2013 knüpft das Herzogliche Museum an seine glanzvolle Gründungsphase an.

Für den Stiftungsdirektor ist die Rückkehr der geraubten Gemälde eine Chance, die historische Bedeutung der seit 2004 in der Stiftung Schloss Friedenstein zusammengeschlossenen Sammlungen wieder ins öffentliche Bewusstsein zu rücken: die Gemälde und Skulpturen im Herzoglichen Museum, das Residenzmuseum im Schloss, das einem der kulturell aktivsten Höfe in Deutschland von der Frühen Neuzeit bis an die Schwelle der Moderne gewidmet ist, das im späten 17. Jahrhundert gebaute barocke "Ekhof-Theater", die Wolfenbüttel ebenbürtige historische Bibliothek, die außereuropäischen Sammlungen mit Objekten von Äthiopien bis Ostasien, die Atlanten, Astrolabien und naturwissenschaftlichen Instrumente, mit denen Goethe bei seinen zahlreichen Gotha-Aufenthalten arbeitete.

Der Fall lenkt den Blick neu auf das "barocke Universum" Gotha

Martin Eberle, der Vorgänger von Tobias Pfeifer-Helke, prägte den Begriff für die Zusammenführung von Büchern, Bildern, Objekten: "das barocke Universum Gotha". Sein Nachfolger steht vor dem 1509 entstandenen Gemälde der Heiligen Katharina von Hans Holbein. Ihr offenes Haar umrahmt das Gesicht eines bürgerlichen Modells, ihre Hand liegt auf einem Rad, im Hintergrund ist ein Schwert zu erkennen. Zu Märtyrerbildern gehören die Instrumente ihres Martyriums.

Diese Katharina, erläutert der Direktor, ist 1691 als erstes der fünf hier gezeigten Gemälde in die Sammlung gekommen, es hing in der fürstlichen Kunstkammer, aus der die Gemäldesammlung hervorging, neben den Wundern der Natur, etwa den Muscheln, und den Instrumenten der Wissenschaft. Die Anschaffungspolitik der Gemäldegalerie um 1800 zeigt das Interesse des Hofes an der Rembrandt-Mode, die nun zurückgekehrte hinreißende Landschaft mit Bauerngespannen aus der Werkstatt von Jan Brueghel dem Älteren steht für die Aufwertung der Landschaftsmalerei, die Kopie des berühmten Selbstporträts von Anthonis van Dyck lässt erkennen, wie beliebt in höfischen Sammlungen die Selbstinszenierungen bedeutender Künstler als Hofmaler waren. Bei der Sonderausstellung der restaurierten Gemälde im kommenden Jahr will der Stiftungsdirektor möglichst viele mit den Bildern verknüpfte Geschichten erzählen, Alltagslegenden ebenso wie Expertisen. Wie zuletzt der Kunstraub im Grünen Gewölbe in Dresden gezeigt hat, rücken Kunst und Kultur zunehmend in die Rolle von Identitätsstiftern für Regionen. An der Glastür zum Saal der Sonderpräsentation "Sie sind zurück!" prangt die Einladung zum Vortrag des Oberbürgermeisters Knut Kreuch am Freitagabend: "Welterbe Gotha! Geraubt. Geplündert. Ganz vergessen!" Dieser Oberbürgermeister ist ein Phänomen. Er hat zusammen mit seinem Parteigenossen Matthias Hey Gotha zur letzten Hochburg der SPD in Thüringen gemacht. Hey hat bei den Landtagswahlen im Oktober 2019 in der Gründungsstadt der SPD mit fast 39 Prozent das einzige Direktmandat der geschrumpften SPD-Fraktion geholt. Knut Kreuch ist seit 14 Jahren Bürgermeister und beliebt nicht zuletzt, weil er Gotha über Kunst und Kultur wieder ins Gespräch bringt. In Berlin hat er berichtet, wie er als 13-Jähriger den Kunstraub von 1979 erlebte. Gern spricht er vom "Trauma", das nun geheilt werden kann. Sein Satz, der Raub habe "die Fürstliche Sammlung auf einen Schlag in die Bedeutungslosigkeit katapultiert", ist falsch. Er übertreibt den Wert der Heimkehrer auf Kosten der Sammlung. Es gibt darin die Cranach-Gemälde, das wunderbare Gothaer Liebespaar von 1480/85, den Gothaer Altar und vieles mehr. Die Bedeutung des Gothaer Universums, das eine Million Objekte umfasst, liegt in seinem Ensemblecharakter. Darauf verweisen die nun zurückgekehrten Gemälde.

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Quelle:
SZ vom 25.01.2020
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