Kunsträuber Stéphane Breitwieser:Er kam am helllichten Tag

Keiner hat so viel Kunst aus Museen gestohlen wie er - bis ihm ein Jagdhorn zum Verhängnis wurde. Nach der Haft sitzt Stéphane Breitwieser auf Millionenschulden. Eine Begegnung.

Sven Siedenberg

Straßburg, im Oktober - Elfmal haben die Glocken der Kathedrale geläutet, und wäre man jetzt nicht mit ihm verabredet und hätte man all die Jahre nicht immer wieder sein Gesicht in den Zeitungen und im Fernsehen gesehen, man würde Stéphane Breitwieser nicht weiter beachten. Weder seine blauen Augen, die unter einer hohen Stirn hervorstechen und unruhig die Umgebung absuchen. Noch seine kleinen Schritte, mit denen er die fliegenden Händler und deren Nippes auf dem Vorplatz umrundet. Das soll der größte Kunsträuber aller Zeiten sein?

Stephane Breitwieser

Stéphane Breitwieser 2003 bei der Ankunft im Gericht von Bulle in der Schweiz.

(Foto: Foto: AP)

Diesen schmächtigen, blassen Mann, der in der Touristenmenge verschwindet wie ein Pinselstrich auf der Leinwand, könnte man auch für einen Kellner halten, einen Briefträger oder einen Fließbandarbeiter in einer Autofabrik. Alle diese Berufe hat Stéphane Breitwieser früher einmal ausgeübt, jeweils nur für kurze Zeit, bis er seine wahre Berufung gefunden hatte: krimineller Kunstsammler.

Dass Stéphane Breitwieser zu diesem Interviewtermin erscheint, ist nicht unbedingt zu erwarten gewesen. Mehr als zehn andere Termine hat er platzen lassen, wegen einer Lungenentzündung, vielleicht aber auch nur, weil die Vergangenheit ihn noch immer nicht loslässt. Er hat schließlich in ganz Europa, beflügelt von teilweise skandalös schlechten Sicherheitsvorkehrungen, mindestens 239 Kunstgegenstände ergaunert, so viele wie sonst niemand zuvor.

Allerdings hat er, und das macht diesen Fall so außergewöhnlich, seine Schätze nie verkauft. Stattdessen hat er sie im elsässischen Mulhouse in seinem ehemaligen Kinderzimmer gehortet. Eine Privatsammlung mit alten Meisterstücken wollte er sich schaffen, eine, die nur er anfassen und stundenlang von seinem Himmelbett aus betrachten konnte. Damit wollte er sich wegträumen aus den zerrütteten Familienverhältnissen und der tristen Ikea-Realität um sich herum.

Das Signal des Jagdhorns

"Ich habe gestohlen aus Liebe zur Kunst", sagt er. Deshalb hat er auch nie eine Spur der Verwüstung hinterlassen, wie all die anderen Kunsträuber und -banausen, die schwer bewaffnet und maskiert anrücken oder im Schutz der Dunkelheit durch einen Hintereingang schleichen, um die teuersten Stücke zu entwenden. Stéphane Breitwieser kam immer am helllichten Tag, bezahlte eine Eintrittskarte und spazierte nach seinem Rundgang am Kassenhaus wieder hinaus, oft mit einem höflichen Gruß auf den Lippen.

Stets trug er ein gebügeltes Hemd und elegante Schuhe, kombiniert mit einer Boss-Jacke oder einem Armani-Mantel, was ihm später die Bezeichnung "Gentleman-Ganove" eintrug. Sekundenschnell knackte er ungesicherte Glasvitrinen oder kappte Nylondrähte mit einem Schweizermesser, manchmal auch nur mit seinem Autoschlüssel.

Die Gemälde und Kunstgegenstände, die er in Museen und Galerien, in Kirchen und Schlössern, bei Auktionen und auf Antiquitätenmessen mitgehen ließ, mussten nicht wertvoll sein, sie mussten ihm nur gefallen. Hinterher, wenn ihn wieder niemand erkannt und er seine Beute im Auto verstaut hatte, besuchte er gerne touristische Sehenswürdigkeiten der Umgebung und belohnte sich und seine Freundin Anne-Catherine, die bei den Raubzügen meistens Schmiere stand, mit einem Essen in einem Feinschmeckerlokal.

Alles ging gut, bis zum 20. November 2001. An diesem Tag fährt Stéphane Breitwieser nach Luzern, ins Richard-Wagner-Museum. Kurz zuvor war er schon einmal dort gewesen, hatte ein Jagdhorn gestohlen. Jetzt kehrt er zurück an den Ort des Verbrechens, um seine Fingerabdrücke zu beseitigen. Die Kassiererin erkennt ihn wieder, ruft die Polizei. Bei der Festnahme leistet er keine Gegenwehr. Anfangs halten ihn die Polizisten für einen Lügner, schließlich wird so mancher Kunstraub durch ein Geständnis enthüllt. Es dauert Wochen, bis den Ermittlern dämmert, wer ihnen da ins Netz gegangen ist. Ebenfalls Wochen dauert es, bis die Gendarmerie in Straßburg endlich die Zimmer von Stéphane Breitwieser durchsucht.

Lebenslanges Einreiseverbot

Sie kommt zu spät. Längst hat seine Mutter einen Großteil der Beute im Rhein-Rhône-Kanal versenkt. Die Gemälde, darunter Werke von Dürer, Brueghel und Watteau, zerstückelt sie angeblich und wirft sie in den Müll. Das macht alles noch schlimmer: Nun werden dem Sohn, den sie eigentlich schützen wollte, nicht nur Gefängnisstrafen in der Schweiz und in Frankreich aufgebrummt, er muss auch mehrere Millionen Euro an die beraubten Kunstbesitzer zurückzahlen. Eine Summe, für die er bis an sein Lebensende nicht wird aufkommen können.

Stéphane Breitwieser schaut auf die Kathedrale, deren Turmspitze in den düsteren Vormittagshimmel ragt, und schlürft Cappuccino. Er wirkt wie einer, der am Ende ist, nicht wie einer, der einen Neubeginn wagt. Natürlich freue er sich über die wiedergewonnene Freiheit, sagt er, in die er vor knapp zwei Jahren, wegen tadellosen Betragens, vorzeitig entlassen worden ist. Doch das Leben, das er heute führe, sei voller Entbehrungen, voller Einschränkungen. "Kaum war ich wieder draußen, haben sie mir meinen BMW gepfändet", schimpft er.

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Er kam am helllichten Tag

Er arbeitet, weil ihn sonst niemand haben will, auf einem Bauernhof, als Obstverkäufer. Vom Gehalt werden Hunderte Euro abgezwackt, zur Schuldentilgung. "Eine eigene Wohnung habe ich nicht, ich lebe abwechselnd bei meinen Großeltern, meinem Vater und meiner neuen Freundin." Schwer aufs Gemüt drücken auch die gerichtlichen Auflagen. Die Schweiz zum Beispiel hat ihm lebenslanges Einreiseverbot erteilt. Ausgerechnet die Schweiz, seine "zweite Heimat". Hier hätte er am ehesten die Möglichkeit, eine vernünftige Arbeit zu bekommen, in der Firma seines Vaters. Er findet nicht zurück ins normale Leben.

Cranach macht schaudern

Wird irgendwo ein Bild gestohlen, steht er sofort unter Verdacht. Mehrmals schon hat ihn die Polizei in Straßburg vorgeladen, weil sie wissen wollte, wo er war, als eine Tat begangen wurde. Und immer wieder wird ihm unterstellt, nur auf den richtigen Zeitpunkt zu warten, um sein angeblich verstecktes Geld zu holen - immerhin beläuft sich der Gesamtwert seiner Diebesgüter auf geschätzte 20 Millionen Euro - und dann zu verschwinden. Das zermürbt ihn. "Dabei hat mich die Zeit im Gefängnis stark gemacht", sagt er. So stark, dass er den Banden aus Russland, die während der Haft versucht haben, mit ihm ins Geschäft zu kommen, widerstehen konnte.

Mag ja sein. Neulich hat ihn aber die Polizei wieder erwischt, in einem Kaufhaus in Orly. Er hat eine Jeans, T-Shirts und Hemden mitgehen lassen. Und als er das Musée de l'Oeuvre Notre Dame besuchte, gleich neben der Straßburger Kathedrale, stand er plötzlich vor einem Bild von Lucas Cranach, es war völlig ungesichert. "Ich habe am ganzen Körper gezittert, kalte Schauer sind über meinen Rücken gejagt." Die Therapie, die er daraufhin begonnen habe, habe er wieder abgebrochen. Obwohl er ahnt, dass es eine Macht gibt, der er nicht gewachsen ist. Einen Trieb, der ihn jederzeit wieder in einen Täter verwandeln kann.

Stéphane Breitwieser leugnet nicht, dass der Schaden, den er für das europäische Kulturerbe angerichtet hat, unermesslich ist. Ihm blute ja das Herz. Es mangelt ihm nicht an Reue. Er kleidet sie in Selbstanklagen wie: "Ich entschuldige mich für alles, was geschehen ist." Und: "Ich mag einer der größten Kunstdiebe sein, vor allem aber bin ich einer der größten Kunstzerstörer." Was soll er nun tun mit dem Rest seines Lebens? "Am liebsten würde ich nach Luxemburg oder Deutschland ziehen", sagt er, weit weg von seiner elsässischen Heimat, und "eine Familie gründen". Er ist jetzt 36. Und dann? Er zuckt mit den Schultern.

Ruckzuck, mit dem Instinkt eines Raubtiers

Um die finanzielle Last, die ihn schier erdrückt, ein bisschen abzumildern, hat er ein Buch geschrieben, "Bekenntnisse eines Kunstdiebes". "Meine Mutter", erzählt er, "hat nach der Lektüre geweint, mein Vater hat gelacht." In dem Buch, das sich wie ein langes Sündenregister liest, schildert er, wie alles anfing, damals, kurz nach seinem 19. Geburtstag. Er jobbte als Museumswärter im Historischen Museum in Mulhouse. Dort hatte es ihm, aus heiterem Himmel, eine merowingische Gürtelschnalle angetan.

In einem unbeobachteten Moment verschwand sie in seiner Hosentasche. Danach stahl er Waffen, Musikinstrumente, Sanduhren, Elfenbeinschnitzereien, Silbergeschirr, Messingwaagen, Tabakdosen, Münzen, Bronzefiguren, zunächst als amateurhafter Gelegenheitsdieb, erst später begann er, die Tatorte auszukundschaften, mit Handschuhen zu arbeiten und sein Aussehen zu verändern, mit Brille und Bart.

Sein erstes Gemälde raubte er im Schloss von Gruyères, es stammte von dem Maler Wilhelm Dietrich und zeigt das Porträt einer alten Dame. Vier Mal ist er in dieses Schloss zurückgekehrt, das idyllisch in einem Bergtal der französischen Alpen liegt, und jedesmal hat er wieder etwas gestohlen. Einmal sogar einen flämischen Wandteppich aus dem 17. Jahrhundert, der drei Meter fünfundfünfzig mal drei Meter fünfundvierzig maß und fast 20 Kilo wog. Weshalb er ihn nicht, wie sonst, am Einlasspersonal vorbeibeförderte, sondern durchs Fenster warf, hinaus auf ein Feld, wo er ihn dann seelenruhig aufhob.

Wann aus dem Nervenkitzel eine Sucht wurde, die ihn berauschte wie eine Droge? "Vielleicht war es", sagt er, "als ich bei einer Auktion von Sotheby's das rahmenlose Porträt einer Frau entdeckte, die Cranach der Jüngere 1535 gemalt hatte." Obwohl zahlreiche Sicherheitskräfte und Hunderte Besucher zugegen waren, griff er zu, ruckzuck, mit dem Instinkt eines Raubtiers. "Vielleicht war es aber auch erst, als ich in Innsbruck im Ferdinandeum ein Bild des Rembrandtschülers Gerard Dou mitnahm." Es ist mehrere hunderttausend Euro wert und markiert, zumindest beim Preis, den Höhepunkt seiner Ganovenkarriere.

Nicht mal Schnipsel

Stéphane Breitwieser würde heute gerne für Museen als Sicherheitsberater arbeiten. "Es ist durchaus üblich", sagt er mit fast heiligem Ernst, "dass der Gejagte zum Jäger wird, ähnlich wie bei Hackern, die die Seite wechseln." Angebote liegen bislang nicht vor. Womöglich deshalb, weil sich bei diesem einzigartigen Kunstraubfall vor allem eine Frage aufdrängt: Sind die Gemälde wirklich alle zerstört worden?

Zwar konnten 102 der gestohlenen Kunstgegenstände durch eine spektakuläre Tauchaktion gerettet und größtenteils an die Besitzer zurückgegeben werden. Die restlichen Diebesgüter fehlen aber, sie schlummern als Karteileiche in der Datenbank des Art Loss Registers, einem in London, New York, Köln und St. Petersburg residierenden Unternehmen, das rund 120 000 gestohlene Werke dokumentiert.

Sollte eines Tages doch wieder etwas von den vermissten Objekten auftauchen, hätte Stéphane Breitwieser keine weitere Strafe zu erwarten, denn die Diebstähle sind mittlerweile verjährt, jedenfalls alle, die er in Frankreich begangen hat. Anders verhält es sich da mit dem Beiseiteschaffen gestohlener Gegenstände, das bleibt Straftatbestand.

Zwei Hauptverdächtige gibt es auch: Breitwiesers Mutter und die Ex-Freundin Anne-Catherine. Sie haben die Zerstörungsaktion damals gemeinsam ausgeführt, also können auch nur sie etwas versteckt haben. Genährt werden solche Spekulationen durch den Umstand, dass nie Spuren gefunden werden konnten von den angeblich in großer Eile zerkratzten und zerschnittenen Werken, nicht einmal kleinste Schnipsel.

Trotzdem ist für Stéphane Breitwieser die Sache auch juristisch nicht ausgestanden. Er hat in sieben europäischen Ländern gestohlen, und überall gilt anderes Recht. So ist bei der Kölner Staatsanwaltschaft noch ein Verfahren wegen schweren Diebstahls offen. Käme Stéphane Breitwieser nach Deutschland, müsste er also mit Festnahme und einem neuen Prozess rechnen.

Bevor er sich mit einem weichen Händedruck verabschiedet, sagt er: "Hätte ich einen Wunsch frei, ich würde mit einer Zeitmaschine zurückdüsen und alles anders machen." Dann verschwindet er in der Menge der Touristen.

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