Süddeutsche Zeitung

Folgen der Sanktionen für den Kunstmarkt:Scheinriesen

Der Kunstmarkt hat wieder sein vorpandemisches Niveau erreicht und fürchtet das Wegbleiben russischer Sammler nicht.

Von Jörg Häntzschel

Am 3. März trafen die Geschäftsführer des Londoner Auktionshauses Phillips eine weise Entscheidung. Sie kündigten an, die gesamten Einnahmen ihrer am selben Abend stattfindenden Auktion mit zeitgenössischer Kunst an das ukrainische Rote Kreuz zu spenden. Der Betrag sollte sich auf 5,8 Millionen Pfund belaufen, keine kleine Summer für die ewige Nummer drei im globalen Auktionsgeschäft. Aber hätte man sich dazu nicht durchgerungen, hätte Phillips-Chef Stephen Brooks in einem Statement die russische Invasion nicht verurteilt, wäre Phillips möglicherweise in existenzielle Schwierigkeiten geraten. Das Auktionshaus wurde 2008 von der Mercury Group übernommen, einem Konzern, dem vor allem Luxusboutiquen und Autohäuser in Russland gehören. Auch die Besitzer, Leonid Friedland und Leonid Strunin, sind Russen. Obwohl die beiden nicht auf den Sanktionslisten stehen und laut einer Sprecherin in keinerlei Beziehung zur russischen Regierung oder zu Personen auf der Sanktionsliste stehen, hatten Sammler und Künstler wie Anish Kapoor schon zum Boykott des Auktionshauses aufgerufen. Nun sieht Phillips, teilt die Sprecherin munter mit, der "erfolgreichsten Auktionssaison seiner Geschichte" entgegen. Aber wer kann derzeit schon in die Zukunft sehen?

Nicht nur bei Phillips, auch im gesamten Kunstmarkt, hat der Krieg für einige Unruhe gesorgt, besonders in London, dem beliebten home away from home reicher Russen. Seit Jahren veranstalteten die großen Auktionshäuser dort immer im Juni und November die "Russian Week", mit Auktionen, die speziell auf Geschmack und Lieblingsgebiete russischer Sammler zugeschnitten waren: viel russisches 19. Jahrhundert. Sowohl Sotheby's als auch Christie's, die beiden weltweiten Marktführer im Auktionsgeschäft, haben die Russenwoche nach Kriegsbeginn umgehend abgesagt. Natürlich war das nicht nur eine politische Geste. Wegen des unterbrochenen Flugverkehrs hätten ja ohnehin kaum Russen kommen können. Doch auch ohne die Russenwoche hat man bei Christie's viel Arbeit damit, sicherzustellen, dass keine Personen oder Firmen, die auf den Sanktionslisten geführt werden, an Käufen oder Verkäufen beteiligt seien, berichtet Dirk Boll, der Europa-Chef von Christie's. Er habe die Compliance-Abteilung eigens dafür aufgestockt.

"Der Einfluss einer Handvoll von Oligarchen auf die Preise wird geringer sein, als wir denken."

Sieht man sich einen sanktionierten Oligarchen wie Roman Abramowitsch an, der nicht nur eine gewaltige Jacht und einen Fußballverein besitzt, sondern auch Kunstsammler und Gründer des Moskauer Privatmuseums Garage ist, oder einen Mann wie Pyotr Awen, Großsammler, Putinfreund und Präsident der Alfa Group, zu der Russlands wichtigste Bank gehört, könnte man nun schwierige Zeiten für den Kunstmarkt anbrechen sehen. Doch Boll gibt sich gelassen. So groß sei die Zahl der sanktionierten Personen gar nicht, und nur ein kleiner Teil davon sammle Kunst. "Der Einfluss einer Handvoll von Oligarchen auf die Preise wird geringer sein, als wir denken."

Boll trennt zwei Gruppen unter den russischen Sammlern. Da sei zum einen die sehr kleine Zahl von Milliardären, die eher in Genf oder an der Côte d'Azur zu Hause seien als in Russland. Da sie dieselbe "globalisierte Kunst" kaufen wie die vielen, vielen anderen Sammler, werde ihr Fehlen bei den nächsten großen Auktionen kaum ins Gewicht fallen. Die Bedeutung der zweiten Gruppe hingegen, der gewöhnlichen russischen Reichen, die vor allem russische Kunst kauften, habe seit der Finanzkrise von 2008 stetig abgenommen. Russische Kunst - ein Bereich zu dem die großen russischen Moderne-Künstler nicht gezählt werden - macht nur etwa ein Prozent des Gesamtumsatzes von Sotheby's und Christie's aus.

Zum ersten Mal liegt China auf Platz zwei der weltweiten Kunstumsätze

Als Kunstmarktstandort spielte Russland nie eine Rolle. Christie's und Sotheby's unterhielten in Moskau zwar Büros, die sie jetzt geschlossen haben, aber Auktionen der beiden globalen Riesen fanden dort nicht statt, teils wegen der drakonischen Zollvorschriften, teils aber auch, weil die großen Sammler Russen ohnehin für ihre Residenzen im Ausland kauften: "Die meisten Objekte, die die Russen kaufen, gehen nicht nach Russland, sondern enden in irgendwelchen Apartments in Genf, London oder auf einer Yacht."

Bolls Optimismus rührt auch von der erstaunlich guten Verfassung her, in der sich der globale Kunstmarkt nach zwei Jahren Pandemie befindet. Das ist jedenfalls die Diagnose von Clare McAndrew, der Autorin des jährlichen "Art Basel & UBS Global Art Market Report", der am Mittwoch veröffentlicht wurde. Nachdem der Markt im ersten Pandemiejahr dramatisch eingebrochen war, stieg er 2021 um 29 Prozent auf ein Volumen von 65 Milliarden Dollar und damit mehr als 2019. Nach wie vor führt der US-amerikanische Markt mit 43 Prozent der weltweiten Umsätze. Zum ersten Mal folgte China mit 20 Prozent. Großbritannien landete brexitbedingt mit 17 Prozent der Umsätze nur noch auf dem dritten Platz. Davon profitierte vor allem Frankreich, das als Europas neues Kunsthandelszentrum immer wichtiger wird.

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