Kunstgeschichte:Botticelli und mehr

Lesezeit: 5 min

Der vollständige Bestandskatalog zur Florentinischen Malerei in der Alten Pinakothek ist eine Sensation und setzt neue Maßstäbe in der Geschichtsvermittlung

Von Ira Mazzoni

Leuchtendes Gelb, flirrendes Rot, strahlendes Blau: Die nahezu moderne, unvermittelte Farbwucht des restaurierten Altargemäldes sorgt für Aufsehen. Die von Sandro Botticelli um 1490 geschaffene "Beweinung Christi" sei jetzt nach Abnahme vergilbter Firnisschichten und großflächiger Übermalungen des 19. Jahrhunderts wieder in seiner ursprünglichen Fasson zu erleben, heißt es. Diese schöne Fiktion lockt das Publikum, das allerdings nur diesen Sonntag Gelegenheit hat, sich einen ersten Eindruck zu verschaffen. Denn bis zur Wiedereröffnung der italienischen Abteilung im Ostflügel der Alten Pinakothek wird noch ein Jahr vergehen.

Die eigentliche Sensation ist eine andere: Die Bayerischen Staatsgemäldesammlungen legen einen vollständigen Bestandskatalog der neuzeitlichen florentinischen Malerei vor. Endlich, möchte man sagen. Denn viele vergebliche Anträge gingen dem Projekt voraus. Dass Museen auftragsgemäß Forschungseinrichtungen sind, wird gerne politisch verkannt und selten gefördert. Diesmal hatte die Deutsche Forschungsgesellschaft ein Einsehen und die Ernst von Siemens Kunststiftung finanzierte ergänzend die kunsttechnologisch-naturwissenschaftlichen Untersuchungen des Doerner-Instituts. Das dicke, 744 Seiten starke Buch ist ein Meisterwerk der Forschung und des Deutschen Kunstverlages. So voluminös das Prachtwerk ist, so gut liegt es aufgeschlagen auf dem Tisch, so elegant ist sein Schriftbild, so klar die Bildwiedergabe auf samtigen Papier, dass man gern darin blättert und sich festliest. Denn im Zusammenwirken neuer Quellenforschung, vergleichender Bildanalyse und den Ergebnissen der gemäldetechnologisch-naturwissenschaftlichen Untersuchungen bietet der Band eine Menge unerzählter und teils unerhörter Geschichten.

Die Sammlung Florentiner Gemälde in der Alten Pinakothek gehört zu den international bedeutendsten. Zwei Drittel des Bestandes wurden zwischen 1805 und 1832 im Auftrag des Kronprinzen und späteren Königs Ludwig I. angekauft. Unter dem Einfluss der Romantiker, die meinten mit dem Rückgriff auf die (prä)raffaelitische "naive" Malerei der zeitgenössischen Kunst wieder Sinn und religiöse Empfindung einhauchen zu können, begann der begeisterungsfähige Ludwig, von Generalinspektor Georg Dillis gut beraten, systematisch zu sammeln.

Die Zeit war günstig. Nach der französischen Invasion kamen Gemälde aus Adelsbesitz auf den Markt. Die Säkularisation sorgte für die Auflösung von Kirchen und Klosterbesitz. Schon auf seiner ersten Italienreise hatte der 20-jährige Königssohn das Glück, ein Täfelchen mit der Darstellung des Letzten Abendmahls von Giotto zu erwerben, der als Wegbereiter der Renaissance galt. Die Künstlerviten des Giorgio Vasari, der 1550 erstmals erschienene Klassiker der Kunstgeschichte, diente dem Kronprinzen als Einkaufsliste. Es galt, Werke der von Vasari besonders gelobten Künstler aufzutreiben. In Rom allerdings war der Markt bereits überhitzt. Die Kunsthändler hatten Kartelle gebildet. Europäische und amerikanische Interessenten zahlten fast jeden Preis um Renaissance-Gemälde häufig unter Umgehung der Ausfuhrbestimmungen außer Landes zu schaffen. So reiste Dillis 1808 nach Florenz und stellte begeistert fest: "Ich habe noch in keiner Stadt so viele geheim verborgene Kunstschätze angetroffen."

Der Kupferstecher und Restaurator Johan Metzger wurde beauftragt, sich um Direktankäufe aus Privatbesitz zu bemühen. Dabei galt als Maxime: "Unbezweifelt, rein und wohl erhalten müssen sie seyn." Noch im selben Jahr begannen die Verhandlungen mit den Nachkommen der Stifterfamilie Tornabuoni-Tornaquinci über den von Domenico Ghirlandaio um 1490 geschaffenen und 1804 abgebrochenen Hochaltar von S. Maria Novella. Acht Jahre zogen sich die Verhandlungen hin, bis das unvergleichliche Werk zu einem verhältnismäßig günstigen Preis nach München gebracht werden konnte. Als Metzger Ende 1814 nach dem Ankauf von Botticellis Spätwerk der "Beweinung Christi" an Dillis schrieb, "ich hätte fast Lust, zur Abwechslung noch eine Venus von Botticelli in seinem kennbaren Stil zu kaufen", stieß er in München auf taube Ohren. In Bayern sammelte man eben katholisch.

"Den Gemälden eine Heimat geben", dies sei eines der Forschungsziele, sagt Sammlungsleiter Andreas Schumacher. So kann heute der gigantische Aufbau des von Fra Angelico geschaffenen Hochaltars von San Marco Florenz maßstabgetreu rekonstruiert werden, in dessen über drei Meter breite Sockelzone die vier kleinen Predellenbilder der Münchner Sammlung passen. Drei weitere, ursprünglich auf ein und dasselbe Pappelbrett gemalte Szenen befinden sich heute in Paris, Dublin und Florenz. Das quadratische Hauptbild - die in Florenz verbliebene "Thronende Maria" - gehört zur den frühesten Tafeln dieses innovativen, flügellosen, in einen Architekturrahmen gefügten Altartypus. Erst durch diese Zusammenschau erhalten die auseinander gerissen Tafeln ihre ursprüngliche Bedeutung zurück: Als Zentrum des von Cosimo de Medici finanzierten Chorneubaus von San Marco.

Durch die Münchner Untersuchungen kann jetzt auch als gesichert gelten, dass die zwei Täfelchen von Taddeo Gaddi in einen Zyklus von 26 gleichformatigen Bildern aus dem Leben Christi und des Heiligen Franziskus gehören, die zweireihig auf ein Wandpaneel genagelt zu einer Sakristeibank in S. Croce gehörten. Darüber hinaus konnte die grausige Geschichte hinter der Erwerbung der Gemälde aus der hundertjährigen Sammlung der Grafen von Ingenheim im April 1940 ermittelt werden.

Geradezu atemberaubend ist die Rekonstruktion der Aufstellung von Botticellis Beweinung Christi, die durch einen neuen Quellenfund ermöglicht wurde. Durch die genaue Beschreibung eines Inventars der Kirche S. Paolino ist jetzt nicht nur der Aufbau des Flügelaltars bekannt, sondern auch sein Stifter, der Prior Cristofano Masini. Dessen Grablege, versehen mit einer marmornen Reliefplatte, befand sich direkt vor dem Altar, so dass sich eine direkte Beziehungsachse zwischen dem liegend dargestellten Prior, dem von Botticelli in die vorderste Bildebene gerückten Leichnam Christi und dem Tabernakel auf den Altarrahmen ergab. So erklärt sich Botticellis Spätwerk, das unter dem Eindruck der düsteren Übermalung immer als Reaktion auf die Bußpredigten Savonarolas missverstanden wurde, als subtile, auf die besondere Situation im Kirchenraum bezogene Umsetzung des Stifterauftrags.

Durch die wissenschaftlichen Untersuchungen kann der Leser die Bildherstellung der Florentiner Renaissance-Werkstätten Schritt für Schritt vom Zuschnitt der Pappelholztafeln, über die Grundierung und Vorzeichnungen bis zum fertigen Bild nachvollziehen. Er sieht, wann und warum ein Künstler wie Fra Filippo Lippi seine Komposition verändert hat. Er lernt, dass in den Werkstätten Ölfarben und eigebundene Tempera je nach gewünschtem Effekt oder auch nach den technischen Vorlieben der Mitarbeiter auf einer Tafel verwendet wurden. Durch Röntgen, Infrarotaufnahmen und die daraus resultierenden Grafiken der Restauratoren werden auch die Reproduktionstechniken der erfolgreich für den freien Markt produzierenden Florentiner Studios evident. So entpuppt sich Fra Bartholomeos Rundbild mit der Anbetung des Kindes 1495 als geschickte Manipulation einer Komposition von Lorenzo de Credi, die sich heute in New York befindet. Der maßstabgetreue Vergleich der Unterzeichnung des Credi-Werkes mit den Figurenumrissen des Münchner Rundbildes ergab, dass Fra Bartholomeo kurz in der Werkstatt Credis gearbeitet haben muss und so Zugriff auf den Karton des populären Bildes hatte. Für sein eigenes Werk spiegelte er die Komposition, verschob und drehte sie mehrfach beim Abpausen um den einzelnen Figuren eine abweichende Haltung zu geben. Kein Wunder, dass Ludwigs Berater den Tondo für einen echten Credi hielten. Jetzt markiert das Gemälde den Beginn von Fra Bartholomeos eigener Künstlerlaufbahn.

Zwei Drittel der im Katalog der italienischen Malerei vorgestellten 79 Gemälde befinden sich normalerweise im Depot. Schon dies weckt die Neugier. Insgesamt setzt der Katalog Maßstäbe. Je ein Bestandskatalog der venezianischen und der französischen Malerei sollen folgen. Auch ein vollständiges, wissenschaftlich fundiertes Verzeichnis der römischen und mittelitalienischen Malerei steht noch aus. Darin soll dann auch das jetzt ausgesparte florentinische Frühwerk von Raffael behandelt werden. Es gibt in den Pinakotheken noch viel zu forschen.

Florentinische Malerei - Alte Pinakothek. Die Gemälde des 14. und 16. Jahrhunderts ; Hsg. Von Andreas Schumacher mit Anette Kranz und Annette Hojer, 744 Seiten ; Deutscher Kunstverlag, 78 Euro

© SZ vom 14.10.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: