Kunstgeschichte:Beflügelt

Engel & Teufel

Hier spürt man den Luftzug der auf Maria zusegelnden Verkündigungsengel so deutlich wie noch nie: Der Band "Angelus & Diabolus" versammelt Engel, Teufel und Dämonen der christlichen Kunst.

Von Gottfried Knapp

Während der Weihnachtszeit und zum Jahreswechsel haben Engel Hochsaison. In jedem Jahr werden neue Bildbände, denen sie entschwirren können, in die Buchhandlungen geliefert. Liegen diese Publikationen griffbereit im handlichen Format neben den Kassen, werden sie von Kunden gerne mitgenommen.

Sie sind überall, auf Mosaiken und Gemälden, an Kapitellen, Kirchenfenstern, Altären

Zum Jahresende 2016 aber hat der Berliner Verlag H. F. Ullmann ein Monumentalwerk über Engel und ihre gestürzten Verwandten, die Teufel, herausgebracht, das nicht beiläufig mitgenommen und in die Tasche gesteckt werden kann. Nein, wer es mit nach Hause nehmen will, braucht den eigens dafür mitgelieferten Tragekoffer; und wer es zu Hause durchblättern, studieren und genießen will, der braucht ein Lesepult, über das er sich beugen kann, oder einen stabilen Tisch, auf dem der Koloss schön flach liegt, denn nur so können die eingeklebten riesigen Ausklapptafeln ohne Beschädigungen geöffnet werden.

Die neue Engel/Teufel-Enzyklopädie beeindruckt aber nicht nur durch ihr physisches Gewicht, sondern auch durch die Systematik, mit der dem Leser alle ideologischen Wandlungen der seit der Antike beliebten guten und bösen Geister erläutert werden. Der Herausgeber Rolf Toman konnte die Kunsthistorikerin Maria-Christina Boerner, eine der besten Kennerinnen der Materie, als Autorin für die sieben Kapitel und die Einzelbeschreibungen gewinnen. Und der auf historische Bildwerke spezialisierte Fotograf Achim Bednorz hat einen Großteil der Objekte für das Buch neu fotografiert und dabei Details herausgeleuchtet, die auf den brillant gedruckten riesigen Buchseiten fast in Originalgröße lebendig werden.

Seien es frühchristliche Mosaiken, romanische Kapitelle und Portalskulpturen, gotische Kirchenfenster, spätgotische Schnitzaltäre, Gemälde der Renaissance und des Barocks, Deckenfresken des Rokoko oder Beschwörungen irdisch schöner Flügelwesen aus dem 19. Jahrhundert - überall haben die Autoren unter den möglichen Kandidaten thematisch klug ausgewählt und die in den Abbildungen hervorgehobenen Einzelheiten des himmlischen oder höllischen Geschehens auch für Laien verständlich erläutert. Noch nie ist man den ehrwürdigen Mosaiken in Rom, Ravenna und Monreale so nahe gekommen, und noch nie hat man den Luftzug, den die auf Maria zusegelnden Verkündigungsengel erzeugen, so deutlich gespürt wie beim Blättern in diesem Buch.

Wir greifen aus den fast 800 Bildseiten das von Lorenzo Lotto 1521 für die Kirche San Bernardino in Pignolo in Bergamo gemalte Altarbild als Abbildung heraus. Zu der verblüffend modern dreinblickenden Madonna und ihrem Kind haben sich Johannes der Täufer und drei ältere Heilige gesellt, aber auch einige Engel, die durch ganz besondere Tätigkeiten auffallen. Vier von ihnen haben ein grünes Tuch als Baldachin über die im Freien auf einem Thron sitzende Maria gehoben.

Jeder der jugendlichen Himmelsboten geht seiner eigenen Tätigkeit nach

Ein fünfter Engel kniet auf der Stufe des Sockels direkt über den eingravierten Buchstaben LLOTUS, also über der Signatur des Malers Lorenzo Lotto. Dieser jugendliche Himmelsbote scheint beim Niederschreiben wichtiger Dinge überrascht worden zu sein. Jedenfalls blickt er so menschlich verdutzt aus dem Bild heraus, als fühle er sich durch den Betrachter bei seiner heilsgeschichtlichen Arbeit gestört.

Rolf Toman (Hrsg.): Angelus & Diabolus. Engel, Teufel und Dämonen in der christlichen Kunst. Verlag H. F. Ullmann, Berlin 2016. 800 Seiten, mit 1100 Farbfotografien und 4 Aufklapptafeln, 299 Euro. Abb. aus dem besprochenen Band.

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