Süddeutsche Zeitung

Kunstfreiheit:Matthias Lilienthal tut, was politisch geboten ist

Die CSU will nicht, dass die Münchner Kammerspiele an einer Demo teilnehmen. Aber städtische Kultureinrichtungen sind keineswegs zur Neutralität verpflichtet.

Von Andreas Zielcke

Mehr als 130 Organisationen haben den Aufruf unterzeichnet, mit dem für die Demonstration "Ausgehetzt" in München aufgerufen wird. Nach dem Willen der Initiatoren sollen die Verantwortlichen der CSU den öffentlichen Sturm ernten, den sie mit dem Wind ihrer extremen und verächtlichen Anti-Flüchtlingsrhetorik gesät haben.

Gegen die Demonstrationsfreiheit können die angegriffenen Politiker nichts unternehmen. Da sich aber unter die Vielzahl der Unterzeichner auch zwei Münchner Theater, die Kammerspiele und das Volkstheater, eingereiht haben, sieht die CSU die Chance, ihre Empörung wenigstens gegen diese kleine Minderheit unter den Initiatoren in rechtliche Gegenwehr zu münzen. Die Theater, sagt sie, verletzten das Neutralitätsgebot, dem alle gemeindlichen Einrichtungen unterliegen. Sie verlangt, dass die Stadt "dienstaufsichtsrechtlich" einschreitet.

Erstaunlich, dass die längst vorhandene Spannung erst jetzt derart eskaliert. Die Politisierung der darstellenden und interpretierenden Künste schaukelt sich ja bereits seit vielen Jahren hoch. Selbst die klassische Musik ist keine politikfreie Sphäre mehr, denkt man nur an das politische Engagement von Daniel Barenboim, Gidon Kremer oder Valery Gergiev; dessen Konzert in Palmyra aus Anlass des Sieges russischer Truppen über Aufständische galt zugleich als Jubelgeste für sein politisches Idol Putin. Nach Gesprächen mit der Stadtregierung hält sich der Chefdirigent der Münchner Philharmoniker zumindest in München politisch zurück.

Unvergleichlich stärker aber ist die Politisierung des Sprechtheaters. Exemplarisch stehen dafür in der Tat Matthias Lilienthals Kammerspiele, die mit ihren Open-Border-Kongressen, ihrer Öffnung für Politikdiskurse, aber auch mit vielen Inszenierungen die Grenze zwischen künstlerischer Eigenwelt und politisch-sozialer Außenwelt mit Wucht und Konfrontationslust durchbrechen.

Der Intendant kann sich auf die Freiheit der Meinungsäußerung berufen

Allerdings geht Lilienthal mit seiner Beteiligung an dem Aufruf noch weiter. Jetzt handelt es sich nicht mehr um streitbare Regiekonzepte oder originelle Theateraktionen im Stadtraum, sondern um die Teilnahme an einer öffentlichen Protestveranstaltung. Ist das die ultimative Konsequenz der Theaterpolitisierung oder, rechtlich gesehen, ein illegitimer Exzess? Ein für alle Mal geklärt ist die Rechtslage für solche politischen Interventionen nicht, auch nicht durch das Bundesverfassungsgericht. Aber dessen Entscheidungen lassen hinreichend den Schluss zu, dass die Stadt nicht, wie es die CSU will, den Theaterintendanten einen Maulkorb verpassen kann.

Für alle Vorstellungen auf der Bühne gilt ohnehin die Kunstfreiheit. Für Einsätze außerhalb des Theaters kann sich aber auch der Intendant auf die Freiheit der Meinungsäußerung berufen, weil Amtsträger sich nur dann an staatliche oder kommunale Neutralitätsgebote halten müssen, wenn sie Hoheitsakte ausüben. Bei einem Minister kann das der Fall sein, wenn er auf der amtlichen Website zu einer Anti-AfD-Demonstration aufruft. Einem Theaterchef aber sind die Bürger nicht hoheitlich unterworfen. Dass autoritätsfixierte CSU-Politiker dies nicht auseinanderhalten, ist vielsagend genug.

Lilienthal hat den Aufruf nicht im eigenen Namen, sondern für die Kammerspiele unterzeichnet. Aber auch daraus kann ihm rechtlich kein Strick gedreht werden, etwa weil sich andersdenkende Mitarbeiter des Hauses in dem Aufruf zwangsinkorporiert sehen. Wie immer Satzung und Arbeitsverträge aussehen, nach außen jedenfalls spielt das keine Rolle, weil der Aufruf niemandem eine Verpflichtung auferlegt. "Lilienthal wirft nur", so der Staatsrechtler Oliver Lepsius zur SZ, "seine Autorität als Theaterdirektor in die Waagschale." Und mit der tut er genau das, was im Moment politisch höchst geboten ist.

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SZ vom 21.07.2018/khil
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