Kunstfest Weimar:Es wächst das Rettende auch

Das Kunstfest Weimar findet statt und erfindet ein Theater, das der Pandemie mit entschiedenem Mut begegnet - und zeitgemäßen Stücken etwa von Sibylle Berg, Theresia Walser, Lothar Kittstein und Falk Richter.

Von Egbert Tholl

Endlich wieder Theater!" Da muss man erst einmal die Bühne erkunden und das, was hier in Weimar so herumsteht. Goethe und Schiller etwa, eine Nachbildung der Doppelskulptur vom Theaterplatz. "Sex" steht auch da, in großen Leuchtbuchstaben, aber "Sex hat ja keiner mehr." Die allgemeine Angst vor Kontakt. Ob ihn mal doch bitte jemand anfassen könne. Macht aber keiner. Also macht sich Benny Claessens an den Text von Sibylle Berg. Er ruft sie auf dem Handy an, will wissen, was er mit dem Text anfangen soll. Sie geht aber nicht ran.

Das Kunstfest Weimar findet statt, noch bis 13. September, das ist schon einmal die erste gute Nachricht. Denn in Thüringen herrschen sehr strikte Corona-Regeln, bis 1. September waren überhaupt keine Veranstaltungen öffentlich subventionierter Häuser in geschlossenen Räumen erlaubt. Gleichzeitig sagt man hier, betrachte man Corona, dann gebe es auch die Mauer noch. Denn in Thüringen kommen aktuell pro Tag circa acht Neuinfizierte hinzu. In Bayern sind es derzeit 300.

Nichtsdestotrotz war im Frühjahr klar, dass das Kunstfest in seiner geplanten Version nicht stattfinden könne. Die Uraufführung einer Oper von Stewart Copeland und Amir Reza Koohestanis Adaption von Anna Seghers "Transit" etwa wurden auf das kommende Jahr verschoben. Rolf C. Hemke, der künstlerische Leiter des in weitgehender Autonomie ans Deutsche Nationaltheater Weimar angedockten Festivals, krempelte alles um.

Hemke rief an - Sibylle Berg, Theresia Walser, Falk Richter und Lothar Kittstein lieferten

Der Mann, der das Festival zum zweiten Mal leitet, war davor zwölf Jahre bei Roberto Ciulli und dessen Theater an der Ruhr zuständig für internationale Gastspiele und Einladungen. Da hat er gelernt, auch noch die unmöglichsten Kooperationen zu erfinden. Das machte er dann auch in Weimar.

Kunstfest Weimar 2020

Kunstfest Weimar 2020 Szene aus "Paul oder Im Frühling ging die Erde unter´ von Sibylle Berg. Video und Regie: Ersan Mondtag, Regie und Schauspiel: Benny Claessens.

(Foto: Candy Welz)

Bereits im April hatte man eine pandemiesichere Spielstätte gefunden, die Alte Feuerwache und deren weiträumigen Innenhof. Hier soll ein soziokulturelles Wohnprojekt entstehen, nun gab es dort erst einmal ein Autokino und dann eben Theater, das man zur Not auch in einer Drive-in-Variante gemacht hätte. Das war dann doch nicht nötig, man sitzt verstreut im Freien, die Kopfhörer auf den Köpfen der 160 Zuschauer leuchten blau.

Neben der Hauptspielstätte diffundiert das Festival in die ganze Stadt und auch in die Umgebung hinein. Nun werden Plattenbausiedlungen und Dörfer wie mit einem Thespiskarren bespielt, viele kleine Formate wurden neu erfunden, anderes, was geplant war, konnte an die herrschenden Bedingungen angepasst werden. So ist dann auch ein hypnotisches Tanzstück möglich, im großen Haus des Nationaltheaters, wo ein Viertel der Plätze besetzt werden darf. Die Truppe Cocoon-Dance konnte ihre Produktion "Vis Motrix" noch knapp vor dem Lockdown bei der Tanzplattform in München herausbringen; nun ist es zusammen mit "Body Shots" als Corona-Uraufführung zu sehen - und man merkt keine Einschränkungen: Wesen zwischen Mensch und Maschine bewegen sich in einem fremdbestimmten Modus, Grusel und Faszination gleichermaßen.

Der Kern des Festivals aber ist eine Reihe von Uraufführungen, meist sind es Monologe. Hemke rief im Mai ein paar Leute an - und Sibylle Berg, Theresia Walser, Lothar Kittstein, Falk Richter und andere lieferten. Und so kam also "Paul oder im Frühling ging die Welt unter" nach Weimar. In der Koproduktion mit dem Schauspiel Köln inszeniert Benny Claessens nun Sibylle Bergs Stück mit Unterstützung von Ersan Mondtag, mit Live-Video, Projektion auf eine Hauswand und Mikroport.

So arbeiten die anderen Produktionen auch, aber die haben keinen Claessens, der an sich schon riesengroß ist. Bergs Clou ist, dass sie nach einer halben Seite des Sinnierens über das Leben im Lockdown, das bei Paul kaum trauriger war als zuvor, in die Vergangenheit abbiegt und einen 15-Jährigen vorstellt, bei dem das Leben auch von lauter Zwängen bestimmt ist, von inneren, nicht wie derzeit von äußeren.

Claessens gibt dem verklemmten Schwärmer seinen Körper, seine gewaltige Stimme, seinen herrlich gesungenen Blues. Aber stets ist er auch derjenige, der auf das, was er tut, draufschaut, mit der Zigarette in der Hand kommentiert, was er da macht, zu was er sich macht, ohne diesen Paul je zu verraten. Er ist ein trauriger Clown mit verschmierter Schminke im Gesicht, aber auch der große Spieler, der Theater immer im Moment erfindet. Sein Ausruf "endlich wieder Theater" erfüllt sich herrlich analog und mit höchster Unabdingbarkeit trefflich.

Kunstfest Weimar 2020

Kunstfest Weimar 2020: Absurdes und Tragisches aus dem Corona-Alltag im Stück „Keine Angst“ von Lothar Kittstein und Stefan Hornbach, Regie: Swaantje Lena Kleff

(Foto: Candy Welz)

Eigenartig an allen Texten ist, dass sie nach Ende des harten Lockdowns in Auftrag gegeben wurden, aber alle mit ihm hantieren. Mithin wohnt ihnen, angesichts der rasanten Veränderungen der vergangenen Monate, etwas Historisches inne. So war das damals. Die große Stille. Eine, die Dimitrij Schaad im Video nackt vor dem Kühlschrank auslebt. Totale Einsamkeit im bläulich kalten Licht, keine ehemalige Freundin will vorbeikommen. Die Kühlschrankszene ist ein schönes Bild, von Chris Kondek wundervoll gefilmt.

Ansonsten klebt Falk Richter mit seinem Text "Five deleted Messages" an der medialen Tagesaktualität. Schaad, getrieben von Verschwörungstheorien, rast durch die Stadt, wird heimgesucht von Albträumen, vom Wahnsinn der Massentierhaltung, von Nostradamus. Alles rasant, auf den Punkt, aber keine Analyse, nur Idee einer Zustandsbeschreibung eines im Internet sozialisierten Menschen.

Castorf wetterte gegen die Fürsorge des Staates: "Ich bin nicht bereit, gerettet zu werden!"

Aber auf jeden Fall lustiger als der Versuch von Sivan Ben Yishai und Marie Bues, das Interview auf die Bühne zu bringen, das Frank Castorf im April dem Spiegel gab. Im April! Castorf wettert da gegen die Fürsorge des Staats, die einem wie ihm natürlich viel zu übergriffig ist: "Ich bin nicht bereit, gerettet zu werden", so heißt auch der Text, der den Splitter einer spontanen Äußerung zur länger gültigen Aussage erhebt. Und auf der Bühne unendlich mühselig wirkt.

Es klappt also nicht alles, es fehlt die Luft des Nachdenkens. Aber: Das Kunstfest ist eine der ersten umfassenden Theateraktionen seit dem Stillstand. Vielleicht muss man erst einmal das ganze Corona-Zeug aufschreiben, dann kann man es archivieren und zu einer von engen inhaltlichen und gedanklichen Zwängen befreiten Kunst zurückkehren. Wobei es hier noch zwei wundervolle Texte zu erleben gibt: Theresia Walsers "Endlose Aussicht", worin sie sich mit sardonischem Grinsen auf ein Kreuzfahrtschiff denkt, das in vollkommener Quarantäne übers Meer treibt, in Häfen nicht landen darf, sondern mit Steinen beworfen wird, in dem die Leichen im Keller gelagert werden und der Rest des Bordlebens wie David Foster Wallaces "Schrecklich amüsant - aber in Zukunft ohne mich" wirkt, wobei es bei dessen Kreuzfahrtbericht keine Pandemie gibt. Und: "Reimt sich auf Hyäne", ein zarter Text von Lothar Kittstein über eine junge Frau mit Down-Syndrom im Lockdown, von Johanna Geißler herzzerreißend gespielt. Leider ist das eingebettet in einen dummen Unsinn von Stefan Hornbach über zwei herzlich uninteressante Typen, ebenfalls im Lockdown, die sich Avatare oder ähnlichen Kram erfinden. Die zwei Stücke sind ineinandergeschoben, und immer dann, wenn Johanna Geißler den fragilen Alltag ihrer Figur zu bewältigen versucht, starrt man zutiefst gerührt auf die Hauswand, auf der ihr Tun vergrößert erscheint, und ist so froh über diese Momente lebenden Theaters.

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