Kunst:Zyklopen im Chlorblau

In den Sechzigern floh David Hockney aus der britischen Enge nach Los Angeles. Vor zehn Jahren kehrte er zurück. Die Londoner Tate Britain widmet ihm nun eine Retrospektive, die schon jetzt Rekorde bricht.

Von Alexander Menden

Irgendwann im November 2012 besprühten Unbekannte in Nordengland einen toten Baum mit rosa Farbe und hackten ihn dann bis auf einen kleinen Stumpf ab. Was normalerweise allenfalls den Besitzer des betroffenen Waldstücks in den Yorkshire Wolds gestört hätte, wurde rasch zu einer Nachricht von landesweiter Bedeutung. Die Medien berichteten mit einer Anteilnahme, die in England sonst allenfalls der Massenkeulung tuberkulosekranker Dachse vorbehalten bleibt.

Der Grund für die Aufregung war David Hockney. Der hatte den abgebrochenen Baum geliebt und gemalt, unter anderem in seinem großformatigen Gemälde "Winter Timber" von 2009. Der Tenor der Reaktionen lautete: "Wie kann man das unserem David nur antun!" Der Tourismusverband von Yorkshire war entsetzt, denn in dem Baum war eine der Hauptattraktionen des "Hockney Trails" verloren gegangen, einer eigens eingerichteten Wanderroute auf den Spuren von Bradfords berühmtestem Sohn.

Spätestens da war klar, dass David Hockney sein Status als National Treasure, als "Liebling der Nation", nicht mehr zu nehmen war. Dieser inoffizielle Titel beschreibt eine Gruppe meist angejahrter Auserwählter, die, wie der Naturfilmer David Attenborough oder die Schauspielerin Judi Dench, von der gefühlten Mehrheit der Briten als vortreffliche Repräsentanten ihres Landes bedingungslos geliebt werden.

Die Vorstellung, dass der mittlerweile 79-jährige Hockney je zu dieser Gruppe zählen würde, wäre in den Anfangsjahren seiner Karriere vollkommen absurd erschienen, und ist jetzt, in ihrer Spätphase, dennoch völlig folgerichtig. Das ist eine der Erkenntnisse, die man beim Besuch der großen Retrospektive gewinnt, welche die Tate Britain Hockney nun gewidmet hat. Sie verzeichnet schon zur Eröffnung die besten Vorverkaufszahlen, die je eine Tate-Sonderschau vorzuweisen hatte.

Die Ausstellung schlägt den Bogen von den rebellischen Anfängen des Jungen aus der "radikalen Arbeiterschicht" Yorkshires über die Laszivität seiner amerikanischen Jahre bis hin zu den Heimatgemälden des Spätwerks. Man begegnet einem Künstler mit immensen zeichnerischen Fertigkeiten, dessen Werk verspielte Homoerotik und faszinierende Auseinandersetzungen mit Semi-Abstraktion, aber eben auch Arbeiten von Kopfschmerz auslösender Grellheit umfasst.

Die Homosexualität, die Hockney in seinen Bildern feierte, war in Großbritannien illegal

Die frühen Gemälde, entstanden während seiner Zeit am Londoner Royal College of Art, verraten noch den Einfluss, den der abstrakte Expressionismus und die anti-akademische Kunst eines Jean Dubuffet auf den jungen Hockney ausübten. Was Bilder wie "We two boys together clinging" (1961) oder "Cleaning Teeth, Early Evening (10pm), W 11" heraushebt, ist ihre Komik (in "Cleaning Teeth" ersetzen zwei Zahnpastatuben die Geschlechtsteile der comichaften Figuren) und ihr explizit homosexueller Inhalt.

"Two Boys", der Titel selbst ein Zitat aus einem Gedicht Walt Whitmans, präsentiert eine Sexfantasie des damals den Popstar Cliff Richard anhimmelnden Malers. Hockney hatte sich schon in seiner provinziellen Kindheit nie um Konventionen geschert, und feierte hier eine Lebensweise, die im Großbritannien der Sechzigerjahre illegal war.

Oft sind aber bei Hockney weniger die Inhalte als die Formen bemerkenswert. So richtet sich in der Tate immer wieder die Aufmerksamkeit auf seine permanente Beschäftigung mit Perspektive. Die Konvention des einzelnen Fluchtpunkts hatte er bald verworfen. Er wolle den Betrachter seiner Bilder nicht zu einem "gelähmten Zyklopen" reduzieren, hat Hockney gesagt.

Das Streben nach Befreiung von der Illusion einer gemalten Dreidimensionalität ist vielgestaltig. In den Sechzigerjahren malt er phasenweise extrem flache Tableaus, sei es in Interieurs wie "California Art Collector" von 1964, das eine Kunstsammlerin inmitten primitiver Artefakte zeigt, oder das im selben Jahr entstandene "Arizona", dominiert von einem in psychedelischen Regenbogen-Querstreifen gehaltenen Tafelberg im Monument Valley. Wie Bühnenrequisiten angeordnet, verraten die Elemente, welchem von ihnen der Maler die größte visuelle Bedeutung beimisst.

In L.A. fand der Maler eine Welt, die sich ganz der Oberflächlichkeit verschrieben hatte

Als größter Einschnitt in Hockneys Leben und Kunst ist oft der Umzug nach Kalifornien genannt worden. Der Stadt fehle ein Piranesi, der ihrer Architektur gerecht werde, fand Hockney (tatsächlich hatte sein amerikanischer Altersgenosse Ed Ruscha schon einige Vorarbeit geleistet). In Los Angeles trifft das Interesse dieses Malers an Oberflächen auf eine Welt, die sich ganz der Oberflächlichkeit verschrieben hat. Die Künstlichkeit der manikürten, von Rasensprengern am Leben gehaltenen Grünflächen, die chlorblauen Pools, in denen sich nackte Jünglinge aalen - allem verleiht Hockney eine fetischistische Aura. Zugleich ermutigt ihn das intensive kalifornische Licht, eine immer schrillere Farbpalette zu verwenden, die sein späteres Werk zunehmend dominieren wird.

Das bemerkenswerteste von Hockneys Pool-Bildern zeigt keine Badenden, sondern einen "Gummiring, in einem Schwimmbecken treibend" (1971). Hier spielt er meisterhaft mit Figürlichkeit und Abstraktion. Der rote Gummiring, unter dem Blasen aus dem dunklen Wasser aufsteigen, ist gegenständlich und zugleich eine reine geometrische Form. Genauso verhält es sich mit dem wasserbefleckten, ockerfarbenen Beckenrand, der das Bild unten begrenzt. Wie bei einer Kippfigur repräsentieren die Farbflächen im einen Augenblick etwas Konkretes, im nächsten stehen sie nur für sich selbst.

Doch ist es nicht sein Ringen mit der Abstraktion, das Hockney auf seine alten Tage zum "National Treasure" hat werden lassen. Weder Van-Gogh-Pastiches wie "Breakfast at Malibu" (1989) noch seine Fotocollagen, weder die durchgehend uninteressanten iPad-Bilder noch die zarten, oft fast klassischen Bleistift- und Tintenskizzen, denen in London ein eigener Raum gewidmet ist, hätten ihn je in diesen Rang erhoben. Denn nur von drei Dingen kann das breite britische Kunstpublikum niemals genug bekommen: Porträts, Landschafts- und Pferdebilder. Pferde hat Hockney noch nicht im Repertoire. Doch waren bezeichnenderweise seine beiden Ausstellungen in der Royal Academy "A Bigger Picture" (2012) und die Porträtschau im vergangenen Jahr die bisher erfolgreichsten Hockney-Retrospektiven.

Die Porträts reichen von berückend intimen Studien bis zu Abbildungen, die, obwohl technisch perfekt, den Dargestellten nie nahekommen. Doch die Bilder, die mehr als alle anderen Werke Hockneys Beliebtheit beim britischen Publikum zementiert haben, sind seine großformatigen Landschaftsgemälde aus Yorkshire, das er nach seiner Rückkehr nach England 2005 als Sujet wiederentdeckte.

Diese ebenso riesigen wie trivialen immer gleichen Senken, Pfade, Haine und Hecken buhlen mit fast schon wieder bewundernswerter Penetranz um Aufmerksamkeit. In "More Felled Trees on Woldgate" (2008) begegnet man auch dem später abgehackten toten Baum wieder, einem violettes Etwas zwischen knallgelben Stämmen und giftgrünem Blattwerk. Vom subversiven Frühwerk unterscheidet all das vor allem der anbiedernde Gestus - und es scheint zu funktionieren bei den vielen Menschen, die sich jetzt schon Eintrittskarten gesichert haben.

Am Freitag vor der Eröffnung der Tate-Ausstellung hübschte Hockney den Titel des Krawallblatts The Sun mit einer schludrig gezeichneten Sonne auf. War das nun eine subtile Verhöhnung, wie manche Kommentatoren hoffnungsvoll vermuteten? Umhalst Hockney auf seine alten Tage den Volksgeschmack, weil er gerne von vielen gemocht wird, einschließlich der Sun-Leser? Oder deckt sich seine Weltsicht mittlerweile schlicht mit jener, die in einem ordentlichen, auch gerne schön bunten Landschaftsbild die wahre britische Kunst erkennt? Es ist schwer zu sagen. Den meisten seinen vielen Fans ist es sicher auch egal.

Dass Hockney noch immer zu anderem fähig ist, wenn er will, beweist eine Reihe von 25 Kohlezeichnungen, die letzte große Arbeit, die in Yorkshire entstand, bevor er nach Amerika zurück zog. "The Arrival of Spring" (2013). Subtil, detailliert, souverän in der Handhabung von Schattierung und Reduktion, zeigt Hockney hier still und völlig wahrhaftig ein Frühlingserwachen. Dieser genaue, lange Blick, zu dem das beschränkte Sekundenblinzeln eines Fotoapparats nie fähig sein wird, ist und bleibt, wenn Hockney ihn - zwischen all den Experimenten mit digitalen Malprogrammen und texturfreien Landschaften - bewusst und konzentriert auf einen Gegenstand richtet, die große Stärke des Künstlers.

David Hockney. Tate Britain, London. Bis 29. Mai. www.tate.org.uk. Katalog 29,99 Pfund.

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