Süddeutsche Zeitung

Kunst:Zerbrechliche Freiheit

Karen Müllers Ausstellung "Mein eigener Weg" im Buchheim-Museum

Von Sabine Reithmaier, Bernried

Mit zierlichen, artig bemalten Porzellanfigürchen haben die widerspenstigen Plastiken Karen Müllers gar nichts gemein. Ihre expressiven Menschendarstellungen halten innere Haltungen und Empfindungen fest, manchmal sogar jene, die ihre Schöpferin zum Zeitpunkt der Entstehung hegte. Daher versteht Karen Müller die Ausstellung auch ein wenig als Rückschau auf ihr Leben. Ihre Schau im Bernrieder Buchheim-Museum ist nicht groß; kein Vergleich mit jener, die das Haus im Jahr 2016 der "Primadonna Porzellan" widmete. Trotzdem ist sie sehenswert, verbindet sie doch Müllers Skulpturen mit ihren großformatigen Bildern.

Die Porzellankünstlerin nennt Letztere schlicht Skizzen, gehen sie doch der Umsetzung eines Motivs in Porzellan voraus. Doch die lebensgroßen Bilder sind viel mehr als Entwürfe, bezeugen gerade im Gegenüber mit Köpfen, Halbbüsten und Figuren ihre Eigenständigkeit. Nicht selten sind sie inspiriert von einer Erinnerung, einer Verszeile, die plötzlich in Müllers Erinnerung wieder auftaucht. "Habe ich mein Leben geträumet", der Name einer Figurengruppe, entpuppt sich als Verszeile des Dichters Walther von der Vogelweide. In "Ôwê war sint verswunden alliu miniu jâr" denkt er darüber nach, ob er sein Leben verschlafen hat, ob alles, was er für wirklich hielt, auch tatsächlich real war. Den Bezug entdeckt man erst später vor zwei Texttafeln, in die Karen Müller die Zeilen des mittelalterlichen Lyrikers eingebrannt hat. Die 79-Jährige mag den Text, der über das Ineinander von Leben und Träumen nachsinnt, auch weil sie überzeugt ist, dass sie selbst oft unreflektiert, aber mit schlafwandlerischer Sicherheit lebt und arbeitet.

Geboren ist Karen Müller in Hillgroven an der Nordsee, fast an der dänischen Grenze. Die Liebe führt sie nach Elmau. Siebzehnjährig lernt sie dort Frank Müller, Enkel des Schloss-Gründers Johannes Müller, kennen und beschließt zu bleiben. Die Ehe hält bis zum Jahr 1972. Karen Müller bleibt in Elmau, zieht aber ins "Waschhaus" am Kaltenbach, wo sie bis heute lebt. Sie ist 37 Jahre alt, als sie eine Lehre zur Keramikerin und damit ihre bis heute andauernde Auseinandersetzung mit Porzellan beginnt. Ein extrem unbarmherziger Werkstoff, der sie ständig zwingt, Grenzen auszuloten, ihre eigenen genauso wie die des Materials. "Das meiste geht kaputt", sagt Karen Müller. "Aber mit Verlusten muss man leben."

Auch die erste Gruppe ihrer "Banksitzer", die jetzt auf den Starnberger See hinausblickt, ist zerbrochen. Trotz des physikalischen und chemischen Wissens, trotz der "Fehlerbücher", die die Künstlerin seit Jahrzehnten führt. Die Gruppe erinnert sie an die frühen Achtzigerjahre, an Zeiten, in denen sie nicht nur um Anerkennung kämpfte, sondern auch um genügend Einnahmen, um ihre Kinder zu ernähren. Auszeiten waren rar, der Blick zu einem Sehnsuchtsort musste genügen: eine Bank in der Elmau, die oberhalb des Ateliers auf einem Hügel steht. Die Spaziergänger, die dort entspannt plauderten, verfügten über das, was sie nicht hatte: Zeit. "Damals wünschte ich mir, dazusitzen und zu ratschen, wünschte mir das Lustige, Lebendige, das mich rausholt aus dem Dauerstress", sagt Karen Müller und streicht sanft über das gebürstete, metallisiert schimmernde Porzellan.

Der Erfolg stellte sich schnell ein. Im Alter von 45 Jahren erhielt sie den Bayerischen Staatspreis (1984), weitere hohe Auszeichnungen und zahlreiche Ausstellungen in Deutschland, Frankreich, Spanien, Japan und den USA folgten. Sechzehn Jahre besaß sie auch ein Atelier in Paris. "Da habe ich Selbstbewusstsein entwickelt", sagt sie. Manche der Gestalten in ihren Farbskizzen haben fast affenartig lange Arme, sind bewusst deformiert, weil sich ihre Schöpferin "so vor dem allzu Schönen fürchtet". An der Museumsdecke hat sie drei gemalte Tänzerinnen befestigt, die jeden leisen Luftzug zum Schwingen nutzen, unbeeindruckt von einem sie düster beobachtenden Nachtmahr, dem die Unbekümmertheit offensichtlich missfällt. Diese kleinen, unerwarteten Momente der Befreiung hält Karen Müller oft fest, auch in "And she jumped to the left", frei zitiert nach dem Song "Time Warp" aus der "Rocky Horror Picture Show". "To be free" nennt sich denn auch die zugehörige Plastik.

Die Pigmente für die Farben ihrer grandiosen Skulpturen schürft sie übrigens selbst. Dafür besteigt sie alljährlich den knapp 2500 Meter hohen Berg "Roque de los muchachos" auf La Palma. Und klettert vermutlich auch hier schlafwandlerisch sicher.

Karen Müller - Mein eigener Weg; Buchheim- Museum der Phantasie, Bernried, bis 7. Juli

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SZ vom 30.04.2019
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