Süddeutsche Zeitung

Kunst in New York:Jetzt aber

Erst Black Lives Matter, dann Corona, nun der Krieg: Wie die Whitney Biennale in New York die Gegenwart einholen will.

Von Sebastian Moll

Eine Biennale soll einen Moment abbilden. Das gilt auch für die Biennale des Whitney-Museums, die seit 1932 der aktuellen amerikanischen Kunst den Puls nimmt. Doch eine solche Abbildung der Gegenwart birgt Gefahren. Die Kuratoren müssen mit einer ungesicherten These darüber operieren, was denn diese Gegenwart ausmacht. In Zeiten wie diesen, da sich die Gegenwart so rasch verändert wie selten, ist diese Aufgabe besonders schwierig.

So waren die beiden Kuratoren David Breslin und Adrienne Edwards im März 2020 gerade bei Studiobesuchen in New Orleans, um sich für die aktuelle Ausstellung Werke anzuschauen, als ihnen gesagt wurde, dass das Museum coronabedingt auf unbestimmte Zeit schließen muss. Die Biennale verschob sich um mehr als ein Jahr, und die beiden mussten sich gut überlegen, wie sie die Ereignisse dieser Zeit und die künstlerische Reaktion darauf einbeziehen.

An vielen Stellen gelang es Edwards und Breslin sehr gut, die künstlerische Beschäftigung mit den Themen und der Stimmung jener Zeit erfahrbar zu machen. Die Bedrohung der amerikanischen Demokratie, die fortgesetzte Ausgrenzung und Diskriminierung von Bevölkerungsgruppen, die Gewalt in der Gesellschaft und nicht zuletzt die Frage, was es eigentlich bedeutet, Amerikaner zu sein: Diese Themen sind deutlich lesbar in der Ausstellung, die sich über zwei Stockwerke des Renzo-Piano-Baus am Hudson River zieht.

Amerikas Beschäftigung mit Identität wirkt heute etwas aus der Zeit gefallen

Tragischerweise hat sich jedoch in den Tagen vor der Eröffnung die Welt erneut dramatisch verändert. Unter dem Eindruck des Kriegs in Europa ist es schwer, die amerikanische Beschäftigung mit Identität und Identitätspolitik, auch die künstlerische, nicht als etwas aus der Zeit gefallen wahrzunehmen. Die Anstrengungen von Breslin und Edwards haben etwas Sisyphoshaftes bekommen, es scheint, als liefen sie der Realität immer einen Moment hinterher.

Die Biennale 2022 ist bewusst politisch. Edwards und Breslin nehmen deutlich Bezug auf die Biennale des Jahres 1993, die eine so leidenschaftliche Diskussion auslöste wie keine zuvor. Zentrale Provokation damals war, dass man das ungeschnittene Video der Polizeigewalt gegen Rodney King in Los Angeles zeigte, jenes Video, das die schlimmsten Rassenunruhen seit den Sechzigerjahren ausgelöst hatte. Doch das war nicht alles. Die Besucher bekamen statt Eintrittskarten auch Buttons des Künstlers David Martinez, auf denen stand: "I can't ever imagine wanting to be white" - "Ich kann mir nicht vorstellen, je weiß sein zu wollen". An der Fassade des Museums hingen überdimensionierte Porträts junger Afroamerikaner, welche die Blicke der Passanten mit "What you lookin at?" - "Was glotzt du?" - aggressiv parierten.

Die Ausstellung rief bei der etablierten Kritik einen wahren Furor hervor. Ein solches Ausmaß der Politisierung der Kunst war man damals noch nicht gewohnt. Die Biennale wurde als "Agit-Prop" und "stumpfe Didaktik" kritisiert. Das Ästhetische sei so stark zu kurz gekommen, dass man zwischen den Werken und reiner, nicht-künstlerischer Polemik nicht mehr unterscheiden könne.

Die Werke in der Ausstellung sollen berühren, nicht belehren

Eben diese Kritik zu vermeiden, ist eine der Lehren, die Edwards und Breslin aus der Vergangenheit gezogen haben. "Es war uns wichtig, dass die Werke unseren gegenwärtigen Moment ansprechen", sagte Edwards bei der Eröffnung. "Aber sie mussten den Moment auch auf eine Art ansprechen, die den Betrachter bewegt." Um es in die Galerien des Whitney zu schaffen, mussten die Werke eine Kraft besitzen, die über reine Belehrung hinaus geht. Das ist ein hoher Anspruch. Nicht einmal die Mehrzahl der 63, über zwei Stockwerke verteilten Arbeiten wird ihm gerecht.

Zu den Werken, die unter die Haut gehen, gehört die sogenannte "Vorkammer", durch welche die Besucher in die Ausstellung gelangen. Es ist ein vollkommen dunkler Raum, in dem die Geräusche einer Nacht des Jahres 2016 unter dem Himmel von North Dakota zu hören sind. In jener Nacht standen sich eine Gruppe indigener Demonstranten, die gegen den Bau einer Pipeline protestierten, und ein bewaffneter Polizeitrupp an der Brücke in das Lakota-Reservat Indian Rock gegenüber. Unter den Demonstranten befand sich der indigene Künstler Raven Chacon. Die Anspannung lag greifbar in der Luft. Im Hintergrund wummern Hubschrauber, einige Frauen singen traditionelle Gesänge. Doch es blieb beim friedlichen zivilen Ungehorsam.

Ein anderes Werk, das berührt, ist ein Video der New Yorker Künstlerin Coco Fusco, die auf der Höhe der Corona-Krise mit dem Boot um die Friedhofsinsel Hart Island fuhr. Hart Island ist die letzte Station für jene New Yorker, die keine Angehörige haben und keine Mittel für ein Begräbnis auf einem Friedhof. Fusco zeichnet auf, wie hier Strafgefangene anonyme Corona-Opfer begruben. Es ist eine nüchterne, schonungslose Metapher für das, was Corona für New York und für das ganze Land bedeutet hat.

Auch eine Videoarbeit von Adam Pendleton beeindruckt. Er porträtiert die schwarze Bürgerrechtlerin Ruby Sales, die 1965 in Alabama von einem weißen Sheriff mit einer Pistole attackiert wurde. Doch ein junger weißer Theologiestudent sprang dazwischen und rettete Sales des Leben. Der junge Mann starb, der Sheriff wurde dennoch frei gesprochen.

Solche Arbeiten sind offen politisch, doch sie vermeiden das dumpf Didaktische der Biennale von 1993. Allerdings schafft es auch die diesjährige Schau nicht ganz, diese Falle zu vermeiden. Werke, wie das der kanadischen Künstlerin Rebecca Belmore, das eine auf einem Haufen leerer Gewehrpatronen stehende indianische Figur zeigt, kommen allzu plump daher.

Zu den interessanteren Trend-Beobachtungen von Edwards und Breslin gehört die Rückwendung vieler Künstlerinnen und Künstler zur Abstraktion. Eine ganze Handvoll von Arbeiten unterfüttern diesen Befund. Da sind etwa die großformatigen Gemälde von Denyse Thomasos, deren weiße Linien sich auf schwarzer Leinwand zu einem desorientierenden Netz verdichten. Da sind die fragilen geometrischen Gemälde von James Little und schließlich die Zeichnungen von Rick Lowe, die auf den Bewegungen von Dominosteinen bei Spielen in seiner Heimat im ländlichen Alabama basieren.

Es sind Skizzen zu einer Realität, die im Werden begriffen ist und die keiner von uns schon so richtig zu verstehen vermag. Und als solche sind sie vielleicht die passendsten Abbildungen des Augenblicks.

Whitney Biennial 2022. Quiet As It's Kept. Whitney Museum, New York. Bis 5. September. Der Katalog kostet 50 Dollar.

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