Sie fliegen nicht nur durch die unendlichen Weiten des Weltraums, sie durchdringen auch jede Sekunde unbemerkt unseren Körper und durchqueren problemlos die ganze Erde: Neutrinos. Zwar sind Milliarden dieser elektrisch neutralen Elementarteilchen unterwegs, doch wegen ihrer geringen Masse sind sie kaum messbar. Kein Wunder also, dass man sie auch "Geisterteilchen" nennt. Sie stammen aus den schwarzen Löchern von Galaxien, wenn von dort große Energiemengen ins All geschleudert werden. Wie auf einem intergalaktischen Jet-Stream reisen die Neutrinos dann durch den Weltraum.
Vergangenes Jahr gelang es einem Forscherteam um die Physikprofessorin Elisa Resconi von der Technischen Universität München, Geisterteilchen, die auf die Erde trafen, sichtbar zu machen. Sie stammen aus einem unfassbare vier Milliarden Lichtjahre entfernten Galaxiekern mit dem poetischen Namen TXS 0506+056 aus dem Umfeld des Orion. Eingefangen hat sie Ice Cube, das größte Neutrino-Observatorium der Welt, das am Südpol steht. Das besteht aus mehr als 5000 lichtempfindlichen Sensoren, die an Strängen bis zu 2500 Meter tief ins Eis hineingeschmolzen sind. Eine würfelförmige Eisfläche mit einem Volumen von etwa einem Kubikkilometer wurde dafür wie ein Schweizer Käse durchlöchert. Wenn die Neutrinos nun durch die absolute Dunkelheit tief im arktischen Eis rasen, lösen sie minimale Lichtblitze aus, die von den Ice Cube-Sensoren gemessen werden.
Als sei dies nicht alles schon faszinierend genug, haben sich die Wissenschaftler nun auch noch eine reizende Spielerei ausgedacht, um das hoch komplexe Thema verständlich und sinnlich zugleich rüberzubringen. "Unsichtbares verständlich zu machen und darzustellen, ist die Herausforderung, vor der wir Astroteilchenphysiker stehen, wenn wir erklären wollen, was wir erforschen", sagt Elisa Resconi. Deshalb haben sie sich mit dem Komponisten und Konzeptkünstler Tim Otto Roth zusammengetan, um Physik und Kunst zu vereinen. Und der hat die von Ice Cube gelieferten Daten künstlerisch in eine Rauminstallation mit Klängen und Farben übersetzt. Das ungewöhnliche Projekt trägt den Titel "AIS³ [AISKJU:B]" und wurde im vergangenen Sommer in der von Schinkel erbauten Kirche St. Elisabeth in Berlin erstmals erlebbar gemacht.
An diesem Wochenende nun wird mit dem Klanglaboratorium die Reaktorhalle in München bespielt. Dafür hat Roth 444 an Strängen hängende, Licht- und Klänge erzeugende Module installiert. Wie in einem Licht- und Soundregen sollen Besucher durch die Installation wandern, in der es mal leise säuselt und zart flimmert, mal lautstark kracht und höllisch blitzt. In der der Raum mal in rot glühen Lichtkaskaden aufleuchtet oder in kühles Blau getaucht wird und in der die Betrachter den leuchtenden Lautsprechern quasi Aug' in Aug' gegenüberstehen.
Für Timm Otto Roth, der sich seit Jahren mit Projekten an der Schnittstelle zwischen Kunst und Wissenschaft beschäftigt und mit zahlreichen Museen, unter anderem dem ZKM in Karlsruhe oder dem Museum für Moderne Kunst in Wien kooperiert, stellt "AIS³ [AISKJU:B]" eine Form von Land Art dar. Nur gehe es dabei um "unsichtbare Natur", wie er sagt. Und die Wissenschaftlerin Elisa Resconi vom Sonderforschungsbereich SFB1258 Neutrinos und Dunkle Materie in Astro- und Teilchenphysik an der Technischen Universität München, der das Projekt präsentiert, freut sich über die gelungene Umsetzung: "AIS³ [AISKJU:B] ist ein außergewöhnliches Erlebnis, das das Ice Cube-Experiment in eindrücklicher Weise sinnlich erfahrbar macht."
Licht- und Klanginstallation von Tim Otto Roth , Samstag und Sonntag, 9. und 10. Februar, jeweils von 10 bis 20 Uhr, Reaktorhalle, Luisenstraße 37 a