Süddeutsche Zeitung

Kunst:Wie sich Geschichte in Möbeln spiegelt

Die Wohnlandschaftskünstlerin Henrike Naumann beschäftigt sich in ihren Installationen mit dem Design und Bewusstsein der Nachwendezeit. Ein Porträt.

Von Till Briegleb

Von der Bühne dröhnt der Soundcheck zu einem Sting-Konzert. Zwischen der längst verlassenen riesigen Flüchtlingsunterkunft im alten deutschen Pavillon und einer neuen Aroma-Boutique, dem Radisson Blu und "Wiebkes ASB-Verpflegungsstelle" liegt die Expo-Plaza Hannover, umzäunt mit rot-weißen Absperrgittern, davor erste wartende Fans. Dies war vor 19 Jahren die zentrale Plattform großer Träume von Weltgeltung und globaler Aufmerksamkeit in der neuen BRD. Die Expo 2000 unter dem Motto "Mensch - Natur - Technik", die "erste Weltausstellung auf deutschem Boden", sollte ein Vorbild an Innovations- und Nachhaltigkeitswillen sein - und ist heute doch vor allem eine traurige Ansammlung von überproportionierten Ausstellungshallen, besprühten Pavillonruinen, grün wuchernden Baulücken und Autohäusern.

An der Expo-Plaza liegt auch das Exposeeum. Dies ist das Reich von Ingrid Wähler und ihrem Verein, den "Bewahrern des Expo-Erbes". Es ist ein Ort gelebten Stolzes und wärmender Begeisterung für die viel gescholtene und teure Unternehmung, und Ingrid Wähler begrüßt den Besucher schon an der Eingangstür mit der Frage: "Sind Sie für oder gegen die Expo?"

Eintritt ins Reich der internationalen Gastgeschenke und Pavillonrelikte, von Expo-Mobiliar und Expo-Kunst, wird aber bei keiner Antwort verweigert. Es ist mehr eine Hilfe für Frau Wähler, die richtige Verführungsstrategie anzuwenden, um das Positive der Expo herzlich zu vermitteln.

Henrike Naumann hat viel Verständnis für den Enthusiasmus dieser mitreißenden Person. Gerade kommt die Künstlerin von der Expo-Plaza herein, wo sie sich im Kostüm von Twipsy hat fotografieren lassen, dem Expo-Maskottchen mit der riesigen Nase, den absurd unterschiedlichen Armen und der Miró-haften Bemalung. "Ich finde es großartig, wenn Leute sich für etwas einsetzen, das keinen interessiert", sagt Naumann dann beim Interview im Expo-Museum. Und das meint sie völlig ironiefrei. Sonst würde sie auch nicht das komplette Exposeeum einpacken und in den Kunstverein Hannover verfrachten, um es dort unter dem Titel "2000 Mensch. Natur. Twipsy." neu zu arrangieren.

Viele DDR-Bürger verschuldeten sich nach der Wende für den Abklatsch postmodernen Designs

Henrike Naumann ist eine Expertin für Teilen und Heilen. Wobei Teilen in ihrem Fall sowohl das politisch Geteilte meint als auch Erfahrung zu teilen. Als Fünfjährige in Zwickau von der Wiedervereinigung erschreckt, die sie politisch nicht verstand, aber ästhetisch intensiv erlebte, beschäftigt sich die heute 35-Jährige mit dem Widerschein gesellschaftlicher Umbrüche im Möbel. Viele Menschen in Ostdeutschland verschuldeten sich in den Neunzigern, um den Kaufhausabklatsch postmodernen Designs erwerben zu können, der für sie die geschmackliche Ablösung vom DDR-Staat bedeutete und die kulturelle Aufnahme in den freien Westen des Kapitalismus. Entsprechend stecken in diesen Möbeln so rührende Hoffnungen wie bittere Enttäuschungen, die Henrike Naumann in großen Installationsparcours als Kaufhauslandschaften des Politischen und Verdrängten inszeniert.

"Ich fand für mich zunächst keine Bilder für die ersten Jahre der deutschen Einheit", sagt Naumann. "In der Schnelligkeit, mit der die Umwandlung der DDR unter Treuhandkontrolle geschah und als alternativlos hingestellt wurde, war überhaupt keine adäquate Reaktion möglich. Es gab ein paar Kamerabilder aus Bischofferode von den hungerstreikenden Arbeitern im Kaliwerk. Aber es existiert für diesen Prozess keine Ästhetik. Und ich brauche immer eine Ästhetik, um über etwas Politisches oder Gesellschaftliches sprechen zu können."

Als Antwort auf diese Leerstelle komponiert die gerade raketenhaft prominent werdende Künstlerin immer neue Arrangements abgestoßener Wohnlandschaften der Neunziger, die sie über Ebay-Kleinanzeigen umsonst erhält, in Kunsthäusern, leer stehenden Läden und auf großen Festivals. Ihre Erfahrung ist es, dass Geschmack mindestens so emotional aufwühlend und teilend wirken kann wie politische Debatten. Und wenn ihre Objekte "eine persönliche Erinnerung über Dinge auslösen, über die man vielleicht gar nicht mehr nachdenken wollte", dann führe einen diese emotionale Reaktion "sofort in die Diskussion über das Thema".

Also formuliert Naumann mit ihren skurril wirkenden Einrichtungswelten eine Art Animationstheater zu ihrer Erlebnisthese. Und tatsächlich provozieren die heute schmerzlich hässlich und sentimental wirkenden Designsünden aus den Ostkaufhäusern bei den Ausstellungsbesuchern Debatten: Warum die Einheit nie wirklich gelungen ist, sich die Teilung Deutschlands zuletzt eher wieder verschärft hat, und warum die Missachtung der Wünsche und Träume der ehemaligen DDR-Bürger heute flächendeckend zu rechter Mobilisierung in den neuen Bundesländern führt. So hat es Henrike Naumann jedenfalls in der NSU-Stadt Zwickau erlebt: "Dort wo ich aufgewachsen bin, haben sich eigentlich alle nach rechts radikalisiert." Während sie gleichzeitig "Love"-Kissen auf ihren Sofalandschaften drapierten.

In diesem Prozess spielt Birgit Breuel eine entscheidende Rolle. Die ehemalige Chefin der Treuhandanstalt ist vielleicht die Symbolfigur für eine rücksichtslose wirtschaftliche Eroberung des deutschen Ostens ohne Gespür für die sozialen Traumata. Und Birgit Breuel war auch die Generalkommissarin der Expo 2000 in Hannover. Ein "Wink der Geschichte", wie Henrike Naumann sagt, der sie zur aktuellen Versuchsanordnung geführt habe mit der Frage: Kann man mit den Hinterlassenschaften der Weltausstellung etwas über die zehn Jahre davor erzählen, als Breuels Treuhand die DDR für den Investorenkapitalismus passend gemacht hat?

"Der radikale Strukturwandel in den neuen Bundesländern folgte einer Idee vom geeinten starken Deutschland, von Wirtschaftsmacht. Agenda 2010, Globalisierung, das sind alles Themen, die auf der Expo besprochen und präsentiert wurden, mit Softpower und bunten Maskottchen." Mit dem Abstand von 19 Jahren - durch den erstaunlich viele Exponate und Fotografien der Expo bereits grotesk antiquiert wirken - sucht Naumann in dem Leihmaterial eine Erzählung, wie die Mär vom alternativlosen Wandel Ostdeutschlands erfunden und gehegt werden konnte.

Kombiniert mit einigen älteren Arbeiten zur deutschen Teilung, zur Radikalisierung rechter und islamistischer Szenen, aber auch zur Geschichte der großen Flüchtlingsunterkunft im deutschen Expo-Pavillon ab 2015 und zur Anti-Expo-Bewegung in den Neunzigern entwickelt Naumann in den vielen Sälen des Kunstvereins ein assoziatives Geschichts- und Debattenmuseum, ein Teilungssanatorium mit Heilungsabsicht. Ingrid Wähler wird hier genauso Führungen mit ihrer Perspektive anbieten wie die Künstlerin. Und Naumann veranstaltet eine Konferenz zur "deutsch-deutschen Frage" am 17. August.

Aber vor allem hofft Naumann, dass die Twipsy-Figur vor dem Kunstverein auch Besucher anlockt, die sonst eher Angst vor zeitgenössischer Kunst haben. Denn auch diese Teilung durch Hemmschwellen findet Naumann kapitalistisch ungesund. "Ich möchte Gesellschaft wieder als etwas Kollektives denken", sagt sie. Und das könne nur gelingen, wenn man offene Räume findet, wo man Erinnerungen teilen kann. Dann, so ihre Hoffnung, wird vielleicht auch das Bewusstsein geweckt, dass es "nicht nur diese eine Art zu leben gibt", den angeblich alternativlosen Konsum- und Leistungskampf. Gesellschaft, das ist ihre positive Erfahrung aus dem Systemwechsel von 1989, kann auch ganz anders gestaltet werden. "Da habe ich Bock drauf", sagt Henrike Naumann zum Schluss lachend und geht, um sich noch von Frau Wähler zu verabschieden.

Henrike Naumann "2000 Mensch. Natur. Twipsy. Kunstverein Hannover. 13. Juli bis 25. August.

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Quelle:
SZ vom 11.07.2019
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