Kunst:Wie findet man in einer Diktatur zu sich selbst?

Kunst: Lothar Zitzmann: Weltjugendlied, 1975, Leihgabe der Bundesrepublik Deutschland, © VG Bild-Kunst, Bonn 2017

Lothar Zitzmann: Weltjugendlied, 1975, Leihgabe der Bundesrepublik Deutschland, © VG Bild-Kunst, Bonn 2017

Eine Potsdamer Ausstellung zeigt, wie Künstler in der DDR staatliche Vorgaben parodierten und umgingen. Das Ergebnis ist vielfältig, skurril, manchmal grotesk.

Von Andreas Kühne

Während eines Treffens mit Künstlerfreunden im Sommer 1986 in einem rauchgeschwängerten Atelier in Karl-Marx-Stadt gerieten wir beim Durchblättern mehrerer Kataloge von DDR-Bezirkskunstausstellungen in eine heftige Diskussion darüber, welche Werke denn in einer ferneren Zukunft die Kunst aus der DDR repräsentieren könnten. Repräsentation keineswegs als Ausdruck der Staatskunst der DDR verstanden, sondern als substantielle künstlerische Deutung einer zeitlich und geografisch abgeschlossenen Epoche. Das baldige Ende der DDR war damals nicht im mindesten abzusehen.

Überraschend schnell fiel der Name von Wolfgang Mattheuer (1927-2004), auch bei denen, die keineswegs zu den Verehrern seiner Kunst gehörten. Mattheuer, der sich schon 1974 von seinem Lehramt an der Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst zurückgezogen hatte, galt als ästhetisch anspruchsvoller, integrer Vertreter der Leipziger Schule, dessen Werk zahlreiche mythologische und historische, aber durchaus lesbare Anspielungen auf den Alltag der DDR enthält.

Die märchenhaft entrückte Freiheit im Westen, wo alle Wünsche erfüllt werden

Paradigmatisch ist sein Bild "Hinter den sieben Bergen" von 1973, auf dem eine dicht befahrene Landstraße eine sanfte Hügellandschaft durchschneidet. Mattheuers Heimat, das sächsische Vogtland, ist unschwer zu erkennen. Die Straße führt zu einem Horizont, über dem eine antik gewandete Frauenfigur erscheint: Ein Bildzitat von Eugène Delacroix' "Marianne", die das Volk auf die Barrikaden führt. Gemalt wurde sie unter dem Eindruck der französischen Julirevolution von 1830. Doch im Unterschied zur beherzt voranschreitenden "Marianne" wirkt Mattheuers Allegorie der Freiheit märchenhaft entrückt. Während Delacroix' "Marianne" in der linken Hand ein Gewehr mit aufgepflanztem Bajonett hält und mit der linken die Trikolore schwenkt, lässt Mattheuer seine Heldin einen Strauss bunter Luftballons in den blauen Himmel schweben.

Für alle Ostdeutschen, die das Bild damals sahen, war es eine leicht zu entschlüsselnde Metapher für die Sehnsucht nach einem Land am und hinter dem Horizont, das dort liegt, wo die Freiheit schier grenzenlos zu sein schien, dort, wo alle Wünsche erfüllt werden. Natürlich machte sich Mattheuer auch lustig darüber, dass man immer dort sein will, wo man gerade nicht ist. Utopia findet immer anderswo statt. Am 9. September 1968 schrieb Mattheuer ein Gedicht, das damals in der DDR nicht veröffentlicht werden konnte: "Hinter den Bergen spielt die Freiheit / Hinfahren sollte man. / Sehen müßte man's mit eigenen Augen, / das Schöne; / die Freiheit spielt mit bunten Luftballons. / Und andere fahren hin/ mit Panzern und Kanonen ..." Gemeint war der schöne, aber kurze Traum von einem freiheitlichen Sozialismus in der Tschechoslowakei, der im August 1968 von sowjetischen Panzerketten zermahlen wurde.

1984 schuf Mattheuer mit der Bronzeplastik "Jahrhundertschritt" eine weitere Inkunabel der Kunst aus der DDR: Die Allegorie einer blind ins Ungewisse marschierenden Macht, die mit dem Hitlergruß und der geballten Faust der Rot-Front-Kämpfer die Symbole beider deutscher Diktaturen in einer Figur vereint. Sicher kein Schlüsselwerk der modernen Plastik, aber ein überzeugender Ausdruck jüngerer deutscher Geschichte. Seit Sommer 2016 steht ein Bronzeabguss des "Jahrhundertschritts" im Innenhof des Potsdamer Museums Barberini, das sich derzeit mit gleich zwei Ausstellungen der Kunst aus der DDR widmet. Vor allem in einer sorgfältig ausgewählten Galerie unter dem Motto "Hinter der Maske. Künstler in der DDR" wird deutlich, wie vielfältig, widersprüchlich, tragisch und manchmal grotesk das Spektrum der Kunst ist, die auf dem Boden der DDR entstand.

Künstlerpräsident Willi Sitte verstand sich als sozialistische Reinkarnation Courbets

Zwischen den gegenstandslosen Faltungen und Schwüngen des bedeutenden Dresdner Konstruktivisten Hermann Glöckner (1889-1987), den im "Ich-Gestein" versunkenen Selbstporträts von Gerhard Altenbourg (1926-1989) und dem unfreiwillig komischen Selbstporträt mit Tube, Schutzhelm und nacktem Oberkörper des Künstler-Präsidenten Willi Sitte, der sich als sozialistische Reinkarnation Courbets verstand, liegen sowohl geistige als auch ästhetische Welten - und Abgründe. Über seine Situation als Künstler in der DDR schrieb Glöckner in seiner Autobiografie: "Wenn ich zuvor schon [während der Nazi-Zeit] zurückgezogen gelebt hatte, so verstärkte sich dies noch. Ich ging in meiner Arbeit meinen Weg, kümmerte mich kaum um das sogenannte Kunstleben, zumal ich davon ziemlich abgeschnitten war."

Die Kunst der versprengten Konstruktivisten, Spätexpressionisten und Formalisten, die in der DDR arbeiteten, aber ihren künstlerischen Idealen treu blieben, mag heute sperrig und merkwürdig wirken und der späten Moderne eine eigene Signatur einzuprägen - als DDR-Kunst wird man sie kaum domestizieren können. Der Dresdner Maler und Naturnarr Theodor Rosenhauer, der in der Ausstellung mit einem parodistisch maskierten "Selbstbildnis als Bohemien" gewürdigt wird, gehörte zu jenen, die im Stillen widerständig blieben.

Das Porträt als Selbstverständigung unter Bedingungen der Diktatur

Warum in der DDR so außerordentlich viele Selbstporträts, Freundschaftsbilder und Gruppenporträts gemalt wurden, darunter ungezählte "Brigadebilder" - wahrscheinlich mehr als in jeder anderen Epoche der Kunst seit dem Goldenen Zeitalter der holländischen Malerei - hat viele Gründe, die in der besonderen Kunstlandschaft der DDR zu suchen sind. Zum einen waren die Künstler unter den Bedingungen einer Diktatur zu ständiger Selbstverständigung, Selbstfindung und Abgrenzung in Form des Porträts geradezu gezwungen. Auch die vielen Atelierbilder und Interieurs lassen sich als eine erweiterte Form des Porträts verstehen. Der kürzlich verstorbene Hallenser Maler Otto Möhwald war ein Meister dieses Genres.

Zum anderen gehörten Gruppenporträts zu den durchaus lukrativen "gesellschaftlichen Aufträgen", die nicht zwangsläufig zu apologetischen Tableaus führen mussten. Natürlich kamen nur die Künstler in Genuss solcher Aufträge, die sich nicht allzu weit vom Tugendpfad eines normativen Realismus entfernten. In der Kunst Westdeutschlands, die sich schon früh der Abstraktion und dem Informel verschrieben hatte, gab es kaum Vergleichbares. Porträtaufträge wie die für die Galerie der Bundeskanzler - Bernhard Heisig ist dort als einziger DDR-Künstler mit seinem Porträt Helmut Schmidts vertreten - die Würdigung verdienter Firmenlenker oder der Präsidenten von Wissenschaftsakademien gehören zu den Ausnahmen.

In den späten 1970er- und 80er-Jahren waren die Mechanismen der Repression subtiler geworden, die Instrumente der Staatsmacht wurden nur noch selten offen gezeigt. Aber an der umfassenden und zugleich fein differenzierten Abhängigkeit, in der sich die Mehrzahl der Künstler befand, hat sich bis zum November 1989 nichts grundsätzlich geändert. Die Künstler des "1. Leipziger Herbstsalons", darunter Lutz Dammbeck, Hans-Hendrik Grimmling und Olaf Wegewitz, und die radikalen Selbstbildnisse der Dresdner "Autoperforationskünstler" trugen maßgeblich dazu bei, dass der marode Staat auch ästhetisch an seine Grenzen gelangte.

Die Potsdamer Ausstellung degradiert und reduziert die Bilder aus der DDR nicht zu Objekten der historischen Forschung, sondern nimmt sie als Kunstwerke ernst. Das unterscheidet sie auf wohltuende Weise von vielen vorangegangenen Präsentationen der Kunst aus der DDR, die entweder Mediokres auf einen unangemessenen Sockel hoben oder mit dem Hochmut der Spätgeborenen eine ganze, weitgefächerte, überaus lebendige Kunstlandschaft ins ästhetische Abseits stellen wollten.

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