Kunst und Technik:Himmel über München

Tomás Saraceno und ein Team aus Künstlern und Wissenschaftlern wollen beim Aerocene-Festival auf dem Olympiaberg für ein nachhaltiges und emissionsfreies "Luftzeitalter" werben

Von Evelyn Vogel

Wer weiß, wenn Greta Thunberg in zehn oder zwanzig Jahren vor der Frage steht, wie sie emissionsfrei den Atlantik überquert, um an einem UN-Klimagipfel teilzunehmen, wird sie womöglich mit einem Aerosolar-Flug anreisen. Denn dass dereinst auch Menschen auf diese solargestützte, umweltfreundliche Weise weite Strecken überwinden können, davon ist der Künstler Tomás Saraceno überzeugt. Und mit ihm die weltweit vernetzten Mitglieder der Aerocene Foundation, hinter der Künstler, Techniker, Flugpioniere und Wissenschaftler - unter anderem des MIT - stehen. Denn Aerocene ist eine von Kunst und Wissenschaft vorangetriebene Vision einer emissionsfreien Fortbewegung.

Welche Möglichkeiten im Aerocene-Zeitalter denkbar sind, will Saraceno, der Anfang des Jahres einen Wettbewerb zur Kunst im öffentlichen Raum des Kulturreferats gewonnen hat, bis Mittwoch beim "Aerocene Festival" auf dem Olympiaberg demonstrieren. Während die Solarskulpturen bei ersten Testflügen am Mittwoch in den knallblauen Himmel über München stiegen, blieben sie bei der Vorstellung des Projekts am Donnerstag wegen des trüben Wetters am Boden. Kein Grund für Saraceno, deprimiert zu sein. Ist er doch davon überzeugt, dass wir uns sowieso davon verabschieden müssen, alles unter Kontrolle zu haben. Und dass wir lernen müssen, auf den richtigen Moment zu warten.

Ist der gekommen, fliegt, besser gesagt schwebt Aerocene von der Sonnenenergie geladen und von der Thermik getragen, durch die Lüfte. Wann und wie lange, das lässt sich durch Rechenmodelle ermitteln, wie das Team per Computersimulation demonstrierte. Einmal von München nach Costa Rica? Kein Problem. Dauert nur neun Tage. Und ja, mit dem Starttermin muss man ein bisschen flexibel sein, ob heute oder an einem anderen Tag, hängt eben von den Wetterbedingungen ab. Das erinnert ein wenig an die Raumfahrt, wo man ja auch das beste Zeitfenster für den Start errechnete.

Beim mehrtägigen Aerocene-Festival in München können Besucher aber auch selbst jede Menge ausprobieren. Im Moment sind das vor allem "unbemannte" Skulpturen, die sogenannten "Tethered Flights", die sich in "Aerocene Backpacks" befinden. Die Rucksäcke, die man ausleihen kann, enthalten alles - von der aerosolaren Skulptur über Sensor- und Steuerungsgeräte, die in wiederverwendeten Plastikflaschen stecken - um die schwarzen, an große Flugdrachen erinnernden Gebilde in den Himmel zu befördern. Bis zu 16 Kilometer hoch können sie aufsteigen. Das Team setzt auf den spielerischen Umgang mit dem Material. Wer weiß, vielleicht hat der eine oder andere Teilnehmer ja eine Idee, wofür die Solarmodule in Zukunft noch eingesetzt werden können.

Es gibt auch einen Personensitz, mit dem tatsächlich Menschen aufsteigen können - wenn es das Wetter zulässt und die Sonne die Aerocene mit genügend Energie auflädt. Diese "Human Flights" finden vom 6. bis 8. September immer vormittags statt. Dabei dürfen allerdings ausschließlich Mitglieder der Aerocene Community abheben. Übrigens: Bei ihrer Recherche stießen sie auf die erste deutsche Ballonfahrerin, Wilhelmine Reichard, die letztmals 1820 in den Himmel über München aufstieg. Ihr zu Ehren will man knapp 200 Jahre danach versuchen, im Rahmen des Festivals mit den "Human Flights" einen Weltrekord aufzustellen: den ersten vollständig solarbetriebenen bemannten Flug der deutschen Geschichte. Außerdem erwartet die Besucher des Projekts ein umfangreiches Begleitprogramm mit Workshops, Vorträgen und Diskussionen, an denen Künstler und Wissenschaftler teilnehmen. Und ein paar Solareinrichtungen zum Herumexperimentieren gibt es auch.

Der 1973 in Argentinien geborene Installationskünstler Tomás Saraceno, der in Frankfurt studiert hat und in Berlin lebt, setzt sich nicht erst seit gestern mit einer nachhaltigen, emissionsfreien Mobilität im Luftraum angesichts von Klima- und Umweltkrise auseinander. Er ist bekannt dafür, die Dinge ein wenig anders zu denken und hat in Zusammenarbeit mit Wissenschaftlern und Architekten begehbare Wolkenstädte geschaffen. Derzeit ist er mit Arbeiten auf der Biennale in Venedig vertreten, wo er in den Giardini und den Arsenale beeindruckende Auftritte hat.

Das Anthropozän mit seinen schadhaften Auswirkungen auf das Ökosystem der Erde mag noch nicht alt sein. Doch wenn es nach Tomás Saraceno und dem Aerocene-Team geht, gehört es der Vergangenheit an. Die Zukunft hingegen gehört den Thunbergs dieser Welt - und heißt Aerocene.

Aerocene Festival, Olympiaberg, 6. bis 11. Sep., tägl. ab 8 Uhr: Aerosolar-Flüge, Pilotenkurse, Workshops, Vorführungen, Diskussionen, Infos unter www.muenchen.de/aerocene

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