Kunst und Politik:Nachts erscholl des Jammers Qual

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Hans Jürgen Schings über die Antworten der deutschen Klassik auf die Französische Revolution.

Von Gustav Seibt

"Sie, und nicht wir", lautete eine der ersten Reaktionen der deutschen Dichtung auf die Französische Revolution. Bei allem Enthusiasmus für die neue Freiheit bleibe ein Schmerz, so Friedrich Gottlieb Klopstock in einer Elegie von 1790: "Ach, du warst es nicht, mein Vaterland, das der Freiheit/ Gipfel erstieg, Beispiel strahlte den Völkern umher:/ Frankreich war's!" Doch nur drei Jahre später schrieb derselbe Dichter die Ode "Mein Irrtum", die alles zurücknahm: "Ach des goldenen Traums Wonn' ist dahin,/ mich umschwebet nicht mehr sein Morgenglanz." Seit jeher wird diese Rücknahme mit dem Terror von 1793 in Verbindung gebracht, dem Blutrausch der jakobinischen Phase der Revolution.

Doch war das alles? Der Germanist Hans-Jürgen Schings, der seit vielen Jahren Studien zu den Antworten der deutschen Klassik auf die Französische Revolution vorlegt, zeigt nun, dass es nicht allein der Blick auf die Pariser Ereignisse war, der die deutschen Zeitgenossen zum Widerspruch brachte. Ebenso wichtig war der Bruch eines Versprechens, das die Revolution gleich zu Beginn gegeben hatte: der Verzicht auf Angriffskriege. "Sogar das gräßlichste aller/ Ungeheuer, der Krieg, wird an die Kette gelegt!", hatte Klopstock 1790 gejubelt.

Spätestens im Herbst 1792 war es damit vorbei, als die Pariser Revolutionäre von einem Verteidigungskampf auf gewaltsame Revolutionierung der Nachbarländer umschalteten, also auf bewaffneten Revolutionsexport. Diese komplexen, auch legislativ verwickelten Vorgänge sind heute meist nur noch Spezialisten bekannt. Doch nicht nur für Klopstock, sondern vor allem für die Beobachter in Weimar wurden sie entscheidend, möglicherweise wichtiger als die Nachrichten von Blutgräueln. Das kann Schings mit wiederum meisterlichen Einzelanalysen zu Goethe, Schiller und Herder nachweisen.

Dabei ging es nicht nur um explizite Kommentare, wie Christoph Martin Wieland sie als laufender Chronist in seiner Zeitschrift Der Teutsche Merkur ablieferte, sondern um den Kern von Ästhetik und Geschichtsphilosophie. So ist die klassizistische Autonomieästhetik eine Antwort auf die Instrumentalisierung von Kunst in der Revolution und ihren Festen. Schings zeigt dies in einer kühnen Engführung von Goethes "Laokoon"-Deutung mit dem ikonischen Bild des Revolutionsmärtyrers Marat, das Jacques-Louis David malte. Hier ein allgemein-menschlicher Vorgang, die tragische Situation "eines Vaters mit zwei Söhnen, in Gefahr, zwei gefährlichen Tieren zu unterliegen", dort ein auf Inschriften und Kommentare angewiesenes, auf Rührung abgestelltes Propagandastück.

Die volle Wucht erhält Goethes klassizistische Deutung aber erst, wenn bewusst ist, dass der "Laokoon" Teil jener Raubkunstmasse wurde, die französische Heere aus allen Ländern Europas nach Paris entführten, um dort das Fortschrittsmuseum aller Kulturen zu installieren. Kunstwerke wurden aus ihren Kontexten gerissen, um zu Dienern der neuen Freiheit zu werden.

Auch Schillers entschiedene Negation der Revolution speist sich aus den Diagnosen des Universalhistorikers, der noch am Vorabend der Revolution, im Frühjahr 1789 in seiner Jenaer Antrittsvorlesung auf die wachsende "Staatensympathie" in einem diplomatisch gezügelten europäischen Mächtesystem gehofft hatte, durchaus mit Blick auf künftigen ewigen Frieden, wie ihn viele Zeitgenossen ersehnten. Damit war es vorbei, seit die revolutionären Armeen im Rheinland gegen den ausdrücklichen Wunsch der dortigen Bevölkerungen Republiken installierten und zum Klassenkampf aufriefen.

Wieland sprach von "Kreuzzügen", während der zunächst ähnlich wie Klopstock hoffnungsfrohe Herder den neuen Revolutionsbegriff bald wieder auf seine naturhaften Ursprünge zurückführte. Wie sich daraus kontrastiv ein neuer Begriff von Kulturnation entwickelte, zeigt Schings im Detail an Schillers kühnem, erst von späteren Herausgebern so betitelten Gedichtfragment "Deutsche Größe", für das er als passendere Überschrift "Deutsche Würde" vorschlägt: eine Antwort auf den Frieden von Lunéville, der 1801 mit der Ablösung des Rheinlands und der folgenden Auflösung aller reichsständischen Gebiete das Ende des Heiligen Römischen Reichs einläutete.

"Bestimmte Negation", nicht einfach historische Kluft sei das, ist die gut belegte These von Schings. Damit erledigen sich viele Diagnosen über "deutsche Misere" und Rückständigkeit. Das zersplitterte Alte Reich kann sogar ein letztes Mal als Freiheitsbollwerk gegen jakobinischen Totalitarismus erscheinen: Sansculottismus funktioniert nicht nur literarisch schlecht in hundert Kleinstaaten. Umso überraschender ist das letzte dieser exegetischen Kabinettstücke. Es gilt Goethes "Faust". Schings nimmt ihn in Schutz gegen die zuletzt herrschenden Interpretationen, die ihn als rastlosen Exponenten einer unseligen Moderne verdammten und dafür vor allem die beiden Schlussakte des zweiten Teils mit Fausts großem Kolonisationsprojekt in Anspruch nahmen.

Es gibt kaum ein größeres intellektuelles Vergnügen, als sich in diese Fragen zu vertiefen

"Das herrische Meer vom Ufer ausschließen" will Faust, um dafür Neuland zu gewinnen und freies Volk auf freiem Grund anzusiedeln. Schings verweist auf einen theologischen Hintergrund für dieses Vorhaben, den dritten Schöpfungstag, an dem Gott Land und Meer scheidet, und zwar in biblischen Formulierungen, auf die der "Faust" unüberhörbar anspielt. Reicht das, um die Kosten dieses Siedlungsprojekts - "Menschenopfer mußten bluten,/ Nachts erscholl des Jammers Qual,/ Meerab flossen Feuergluthen,/ Morgens war es ein Canal" - oder den Tod von Philemon und Baucis zu rechtfertigen? Die Diskussion mit der Forschung wird hier kleinteilig, verwickelt und tiefgründig.

Es gibt kaum ein größeres intellektuelles Vergnügen, als sich in diese Fragen zu vertiefen.

© SZ vom 07.08.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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