Süddeutsche Zeitung

Kunst:Selbstbewusste Behauptung

Die Kunsthalle Tübingen widmet der österreichischen Allround-Künstlerin Birgit Jürgenssen ihre erste posthume Retrospektive in Deutschland. Der Titel "Ich bin" stammt von einem ihrer bekanntesten Werke.

Von Evelyn Vogel

Selbstverständlich sind auch sie zu sehen: die Schuh-Objekte aus den Siebzigern, die so aufregend, vielfältig und fetischhaft sind, dass Lady Gagas Fleischkleid dagegen plump und langweilig wirkt. "Schuhe schienen mir geeignete Objekte zu sein, um meinen erotischen und zynischen Fantasien und allen anderen Interpretationsmöglichkeiten freien Lauf zu lassen", hat Birgit Jürgenssen einmal in einem Interview rückblickend erzählt. Zu dem Zeitpunkt hatte sie jedoch alles, was mit den Schuhen zu tun hatte, längst in eine Schublade verbannt, weil sie nicht "die mit den Schuhen" hatte werden wollen.

Statt dessen schuf Jürgenssen Zeichnungen und Gemälde, Skulpturen und Objekte, Fotos und Videos und zahlreiche experimentelle Arbeiten, in denen sie den menschlichen Körper, das Verhältnis der Geschlechter, traditionelle Rollenbilder, Sexualität, zwischenmenschliche Beziehungen und gesellschaftsbedingte Schönheitsvorstellungen selbstironisch und oft subversiv hinterfragte. Da sie aber auch nicht in die feministische Schublade gesteckt werden wollte, bezeichnetet sie ihre Kunst als "femischistisch" - ein Hinweis auf ihre Fetisch-Faszination. Mit der selbstbewussten Behauptung "Ich bin" - zwei Worte, mit Kreide in Schönschrift auf eine kleine Schultafel geschrieben - verortete Birgit Jürgenssen sich 1995 als eine der wichtigsten Vertreterinnen der Avantgarde der Siebzigerjahre in Österreich neben Valie Export und Maria Lassnig.

Gut fünfzehn Jahre nach ihrem frühen Tod - Jürgenssen starb im September 2003 im Alter von nur 54 Jahren - zeigt die Kunsthalle Tübingen nun unter dem Titel "Ich bin" die erste große posthume Retrospektive in Deutschland, mit etwa 200 Exponaten. Zu sehen sind zentrale Werke der Künstlerin wie die schon erwähnten Schuh-Objekte, Fotografien wie das "Nest", in dem sie die Stereotype der Frau als Mutter listig ad absurdum führt, oder die berühmte "Hausfrauen-Küchenschürze" von 1975. Das Herd-Objekt mit dem Brot im Backofen - phallisches Symbol und Zeichen der Schwangerschaft zugleich - hatte sich die damals 25-jährige Jürgenssen wie eine Schürze umgebunden und den performativen Auftritt im Stil kriminaltechnischer Fotografie frontal und von der Seite dokumentiert. Diese frühen Inszenierungen und weitere experimentell-performativen Fotografien, in denen sie gängige Rollenbilder und Klischees scharfsinnig sezierte, zeigen auch eine Lust an der Verwandlung, wie etwa Cindy Sherman sie sich etwas später zu eigen machte.

Jürgenssen, die lange nicht von ihrer Kunst leben konnte, war 1980 ein Jahr lang als Lehrbeauftragte bei Maria Lassnig an der Hochschule für Angewandte Kunst in Wien beschäftigt und übernahm 1982 einen Lehrauftrag in der Meisterklasse von Arnulf Rainer an der Wiener Kunstakademie. Dort baute sie das Fach Fotografie auf, das sie zwanzig Jahre lang unterrichtete. Die Ausstellung in Tübingen umfasst Arbeiten aus allen Werkgruppen Jürgenssens. Das fängt an bei den Kinderbüchern, die sie als Teenager gestaltete, nachdem die "Bi" genannte Achtjährige schon Schulhefte mit Bildern nach Picasso gemalt und selbstbewusst mit "Bicasso Jürgenssen" signiert hatte. Da sind verschiedenste experimentelle Bildfindungsideen mit Hilfe von Polaroids, Rayogrammen, Solarisationen und Cyanotypien sowie Überblendungen und Collagen zu sehen. Fotografische Inszenierungen von Objekten von intensiver haptischer Anmutung reihen sich ebenso zu fast wandfüllenden Tableaus wie performative fotografische Sequenzen. Neben flüchtigen malerischen Gesten auf Papier hängen verknappte Bildübermalungen zu Körper und Raum auf Basis von Projektionen oder Fotografien.

Und immer wieder sind da diese ganz wunderbaren, zarten Zeichnungen, in denen Birgit Jürgenssen oft spielerisch leicht die Grenzen zwischen Mensch, Tier und Pflanze überwindet. Tierschädel, die wie Blüten auf Pflanzenstängeln sitzen, Bäumchen, die aus Lebenslinien eines Menschen wachsen, Körper, die sich mit Pflanzen oder Tieren zu neuen Mischwesen formen. Das Animalische in Menschen, vor allem das Triebhafte, war ein Thema, das die Künstlerin in verschiedenen Techniken und unter verschiedenen Aspekten immer wieder durchspielte. Die Metamorphose vor allem des weiblichen Körpers zu Tier oder Pflanze inszenierte Jürgenssen beeinflusst von Surrealismus, Psychoanalyse und Feminismus. Die entstandenen "Halbwesen" waren Ausdruck eines suchenden femininen Ich, dem Birgit Jürgenssen mit ihrem "Ich bin" und einem vielfältigen und kraftvollen Œuvre selbstbewusst Antwort gab.

Birgit Jürgenssen: Ich bin. Kunsthalle Tübingen. Bis 17. Februar.

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SZ vom 31.01.2019
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