Süddeutsche Zeitung

Kunst:Schnee auf der Wunde

"Scheize, Liebe, Sehnsucht": Im Kunstmuseum Stuttgart hat das isländische Multitalent Ragnar Kjartansson eine melancholische Bild- und Performance-Welt eingerichtet.

Von Till Briegleb

Aus mancher Versammlung persönlicher Vorbilder entsteht nur schwer eine Ahnung, welche Kunst sich daraus entwickeln könnte. Ragnar Kjartansson etwa bezeichnet sich als "Jünger" des deutschen Dichters Heinrich Heine, als flammenden Verehrer radikaler Performancekunst, die westliche Werte attackiert, aber auch als Fan des entrückten Konzeptkomponisten John Cage. Er interpretiert auf der Ukulele den Folkmusiker Townes van Zandt, der in seinem Wohnmobil bei zugezogenen Gardinen Flugzeugklebstoff schnüffelte. Er liest gerne isländische Sagas, wo Frauen ihre Männer anstiften, Beleidigungen mit dem Schwert zu rächen. Und er liebt das Theater, allerdings vor allem seine visuellen Elemente, nicht dessen Drang, den Inhalt des Dramas jedem im Publikum unbedingt verständlich zu machen.

Am Ende findet sich aber doch ein Wort, auf das sich all diese gegensätzlichen Einflüsse beziehen: "Freiheit". Kjartansson spricht immer wieder darüber. Er versteht die Freiheit der Kunst als glückliche Abwesenheit von Zwängen. Seit er 2009 auf der Biennale in Venedig im feuchten Erdgeschoss eines Palazzos am Canal Grande ein halbes Jahr lang täglich - und stets besoffen - ein Porträt seines Freundes Páll Haukur Björnsson in Badehose malte, kultiviert er diese Ungezwungenheit mit enorm wachsendem Erfolg.

"Die reiche Anständigkeit der westlichen Konsumkultur ist die größte Bedrohung für die Welt."

"Nur in der Kunst sind Akteur und Betrachter gleichermaßen frei, den Inhalt einer Arbeit nicht verstehen zu müssen", sagt der unheimlich freundliche Isländer zehn Jahre später auf die Frage, warum er gerne Künstler sei. Kjartansson weilt in Stuttgart anlässlich der großen Schau, die ihm das dortige Kunstmuseum (kuratiert von Ulrike Groos und Carolin Wurzbacher) gerade ausrichtet. Titel: "Scheize, Liebe, Sehnsucht", seine drei deutschen Lieblingswörter - ohne deutschen Rechtschreibzwang.

Aber diese poetische Methode der vom Zwang des Verstehens befreiten Kunsterzeugung ergibt keineswegs kryptische Kunst, jedenfalls nicht bei Kjartansson. Der Sohn eines Regisseurs und einer Schauspielerin, er glühender Kommunist und sie fromme Protestantin mit Mutter-Teresa-Aufsteller vor dem Bücherregal, ist selbst ein begnadeter Rollenspieler, Regisseur und Dirigent geworden. Ein Performer ohne Angst vor Gattungsgrenzen, ein Schamane sich wiederholender Rituale, der auf Video oder im Theater, mit Freiluftmalerei oder Konzept-Konzerten seinen melancholischen Expressionismus zelebriert, stets einladend, ironisch und warm.

Mal stellt er sich als Big-Band-Leader auf eine rosa Bühne und singt frisch gegelt immer wieder in feinsten sentimentalen Variationen die eine Zeile "Sorrow conquers happiness", Arbeitstitel: "God". Dann inszeniert er an der Berliner Volksbühne mit dem Schauspieler Maximilian Brauer über eine enervierend lange Stunde das Sterben eines preußischen Soldaten mit Bauchschuss auf einem qualmenden Schlachtfeld deutscher Eroberungsfeldzüge. Er setzt sich in einer Variation der Venedig-Aktion bei Wind und Wetter auf das weltgrößte Lavafeld in Island, das als Rückstand einer gigantischen Naturkatastrophe aus dem Jahr 1783 heute moosige Idylle zeigt, und malt in Serie possierliche Landschaftsbilder als neue Form des Action Paintings - Regenspuren als Drippings im Geiste Pollocks inklusive.

Oder er inszeniert in einer aufwendigen neunteiligen Videoinstallation mit dem Titel "Scenes from Western Culture" zuckrige Klischees kapitalistischen Wohlstands als ästhetische Überdosis des modernen Weltverbrauchs. Da haben zwei junge Leute Sex in einem steril weißen Apartment mit Philippe-Starck-Leuchte, daneben schippern Modepüppchen über einen Schweizer See, ein schwarzes Paar diniert in Donald Trumps New Yorker Lieblingsrestaurant, und kleine Kinder in Gucci-Kostümen spielen mit einer Nanny bei einem Teepavillon in einem Prachtgarten. Und zwischen all diesen Idyllen einer selbstgerechten Konsumkultur brennt ein Haus nieder. Für Kjartansson ist die Wohlstandssehnsucht der westlichen Kultur im Kern nackte Gewalt.

"Die reiche Anständigkeit der westlichen Konsumkultur ist die größte Bedrohung für die Welt. Sie ist als Verlangen vorgedrungen in den letzten Winkel des Planeten und zerstört alle anderen Kulturen. Sie zerstört das Klima, die Gemeinschaften, was zerstört sie eigentlich nicht?" In Aussagen wie diesen wird offensichtlich, dass die Freiheit des Nicht-Verstehens, die Kjartansson als Voraussetzung der Kunstentfaltung so schätzt, ihn nicht zurückhält vor mehr oder weniger subtilen Aussagen zur Lage der Gesellschaft. "Fast alle meine Arbeiten haben im Hintergrund ein politisches Statement", sagt er entschieden und als Warnung, sich von der vordergründigen Nettigkeit seiner meditativen Werke einlullen zu lassen.

Mal ist dieser politische Subtext deutlicher, wie bei der Gemäldeserie "Architecture and Morality", für die Kjartansson im Westjordanland gewöhnliche Wohnhäuser von Israelis und Palästinensern in Bild gesetzt hat. Dann ist die politische Symbolik abstrakt und unheimlich wie in der Arbeit "Hitlers Loge", einem Trümmerhaufen aus dem Pompdekor, das sich der Führer im Berliner Admiralspalast einbauen ließ, um von dort Johannes Heesters anzusehen, und das bei der Sanierung 2006 herausgerissen wurde.

Am schönsten aber ist die politische Ansprache Kjartanssons, wenn sie atmosphärisch bleibt und aufs Positive abzielt. Wie in der großen Videoarbeit "The Visitors", einem Konzert von Musikern, die über die Räume einer amerikanische Landvilla verteilt melancholische Lieder spielen, als Gruppe aber ein überaus starkes Gefühl von Zusammengehörigkeit vermitteln. Kjartansson nennt die Arbeit in seiner Vorliebe für ironische Wendungen im Geiste Heines einen "Werbespot für Sozialismus: Allein und doch zusammen."

Ironie und Melancholie, Weltschmerz und Sehnsucht verbinden sich in Kjartanssons Opus. Vor allem, wenn er sein Leidthema "Tod" aufführt. In Stuttgart wird über die gesamte Dauer der Ausstellung live gestorben. "Tod einer Dame" zeigt eine lebende Darstellerin als Leiche mit Pelzjäckchen, die mit einer blutenden Wunde auf dem Boden liegt und mit Schnee berieselt wird. Stundenlang. Das ist Kjartanssons Vorstellung von einem Drama, von Theater, das ohne Erzählung erzählt. Mit dieser stillen Aktion protestiert er auch gegen die Dogmen von Lehre und Kritik seiner Jugendzeit. "An der Kunstschule wurde uns eingetrichtert: Performance ist kein Theater! Aber das ist doch Quatsch. Für mich gibt es da keinen Unterschied."

Ob Musik, Theater oder Malerei: Alles geht ein in sein "humanistisches Ritual"

Man versteht dieses Desinteresse an Grenzen, das sich konsequent durch Kjartanssons Arbeit zieht, am besten biografisch. Denn auf die Kunstschule in Reykjavík ist der Theatersohn zunächst nur gegangen, weil er Popstar werden wollte. Da so viele seiner Idole von David Bowie über Keith Richards bis hin zu den Mitgliedern von Kraftwerk erst Kunst studiert hatten oder als Kunstfiguren auftraten, hielt der junge Sehnsüchtige die Art School für das "coolste" Ausbildungsinstitut, um ein schillernder Musiker zu werden. Dort machte er die Erfahrung, dass seine Musik, die er im Popgeschäft selbst als etwas prätentiös empfand, im Kunstrahmen hervorragend angenommen wurde. Deshalb begreift Kjartansson die Freiheit der Kunst als so hilfreich für seine musikalische Grundmatrix.

Vielleicht ist Kjartansson tatsächlich ein Musiker in Künstlerverkleidung. Aber einer mit riesiger Neugier für andere Künste und Kulturen, die er in sein "humanistisches Ritual" einfließen lassen kann. So nennt er selbst sein Tun. Von diesem Begriff aus findet man dann auch ganz leicht die Verknüpfungen zu all den vielen Idolen in seinem Kosmos. Kreativität als humanistisches Ritual beschäftigte Heine genauso wie Bowie oder Paul McCarthy. Und der freundliche Ragnar Kjartansson ist gerade dabei, selbst ein Idol dieses Klubs zu werden. Als neues Sinnbild aktiver Melancholie, die mit Musik die zersplitterte Welt der Künste neu zusammenleimt.

Ragnar Kjartansson: Scheize, Liebe, Sehnsucht. Kunstmuseum Stuttgart. Bis 20. Oktober. Katalog (Distanz Verlag) 39,90 Euro.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.4537570
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 25.07.2019
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.