Kunst:Poesie der Bewegung

Kunst: Entwurf zum Gemälde "Farbentanz" für den Festsaal im Essener Museum Folkwang, nach 1930.

Entwurf zum Gemälde "Farbentanz" für den Festsaal im Essener Museum Folkwang, nach 1930.

(Foto: Museum Folkwang Essen - Arthotek)

Im Aschaffenburger Geburtshaus Ernst Ludwig Kirchners ist eine umfassende Ausstellung mit dessen Tanzbildern zu sehen

Von Florian Welle

Zeitlebens war Ernst Ludwig Kirchner vom Tanz fasziniert. Das Thema zieht sich wie kaum ein zweites durch sein gesamtes Schaffen: von den Dresdener Anfängen zu Beginn des 20. Jahrhunderts über die Berliner Zeit und die gesundheitlich bedingte Übersiedelung in die Schweiz 1917 bis zu seinem Freitod 1938. Immer wieder widmete er sich dem "Studium des Menschen in seiner Bewegung, in Tanz und Akrobatik", wie es der Kunstsammler und enge Vertraute Kirchners, Gustav Schiefler, einmal treffend beschrieb.

Sucht man nach dem Grund für diese lebenslange Obsession, so wird man wohl bis in Kirchners Kindheit zurückgehen müssen. Eine Fährte, die der gebürtige Aschaffenburger selbst gelegt hat, als er 50-jährig in einem Aufsatz notierte: "Ich bin am Bahnhof geboren. Das erste, was ich im Leben sah, waren die fahrenden Lokomotiven und Züge, sie zeichnete ich, als ich drei Jahre alt war. Vielleicht kommt es daher, dass mich besonders die Beobachtung der Bewegung zum Schaffen anregt."

Eben dort, im Geburtshaus schräg gegenüber dem Bahnhof, kann man derzeit anhand von 70 Exponaten aus allen Werkphasen in Kirchners Tanz-Kosmos eintauchen - eine thematische Gesamtschau, wie es sie so noch nie gegeben hat, ermöglicht durch Leihgaben von Einrichtungen wie dem Städel Museum einerseits, durch Arbeiten aus Privatbesitz andererseits. Nachdem man in den letzten Jahren einige erfolgreiche Ausstellungen etwa zu den "Frauen um Kirchner" auf den Weg gebracht hat, erhielt das "Kirchnerhaus" im vergangenen Jahr offiziell den Status eines Museums.

Die fulminante Tanz-Ausstellung mit ihren Blättern voll fliegender Gewänder und wirbelnder Leiber, zu der ein opulenter Hardcover-Katalog bei Hirmer erschienen ist, zeigt, wie berechtigt dieser Schritt war. Obgleich das Thema das Haus auch an seine Grenzen geführt hat. Als Ausstellungsfläche dient der Kuratorin Brigitte Schad ein einziger, freilich sehr großzügiger Raum, dessen Wände nun bis auf den letzten Fleck genutzt wurden, um alle Exponate, ergänzt durch Fotografien Kirchners, zeigen zu können. Der Verzicht auf das eine oder andere Blatt hätte vielleicht eine etwas konzentriertere Betrachtung ermöglicht.

Doch wer möchte aussortieren, wenn er die Verbindungen hat, ein Thema erstmals auf so repräsentative Weise zur Darstellung zu bringen? Die Beobachtung der Bewegung: Kirchner stromerte in seinen "Brücke"-Jahren in Dresden und Berlin durch Varietés, Tanz- und Nachtlokale, um in einer "Ekstase des Sehens" den menschlichen Körper im Moment der mal grazilen, mal losgelöst freien (Ver)Drehung von Rumpf, Beinen und Armen zu beobachten. Lässt man einmal den künstlerischen Aspekt beiseite: Mit den Arbeiten ließe sich mühelos eine Kulturgeschichte des Tanzes vor und nach dem Ersten Weltkrieg schreiben.

So erzählt die Farblithographie "Cake-Walk" (1911) von dem auf Ragtime-Musik basierenden Gesellschaftstanz, der von Amerika aus seinen Siegeszug antrat. Daneben tanzte man "Charleston" (Bleistiftskizze, 1911) oder den "Apachentanz" (Kaltnadelradierung, 1911). Natürlich darf auch der Cancan nicht fehlen. 1921 begegnete Kirchner dann Nina Hard und begeisterte sich fortan für den expressionistischen Ausdruckstanz. Eine Serie von Kreidezeichnungen aus der Mitte der Zwanzigerjahre zeigt Mary Wigman bei ihrem innigen "Totentanz".

Kirchners Faszination umfasst neben Modischem ebenso das klassische Ballett; aber auch das exotisch-kultische Moment reizte ihn. Oder schlicht der "Alptanz" der Bergbauern, die er in sein Haus "In den Lärchen" zum Tanz lud, begleitet vom Grammophon. Noch 1931 bat er seine Lebensgefährtin Erna Schilling in einem Brief: "Wir brauchen ein paar richtige Schmettersachen. Die Marseillaise und den alten Dessauermarsch, oder den Hohenfriedberger, irgend so etwas mit viel Bum-Bum-Bum."

Natürlich sind die meisten der Werke erotisch aufgeladen. Doch der nackte (weibliche) Körper scheint selten wirklich Kirchners Thema zu sein. Wichtiger ist ihm die Bewegung selbst, beziehungsweise die Frage, wie ihre Dynamik auf die Zweidimensionalität des Blattes überführt, also ein einziger Augenblick eingefangen und stillgestellt werden kann. Gerade in den frühen Werken sind dann in letzter Konsequenz nur mehr wild ineinander verschlungene, hieroglyphenartige Linien zu sehen: ein poetischer Tanz der Striche, wie etwa auf der kleinen Bleistiftzeichnung "Tanzpaar im Sprung".

Im Spätwerk rückt Kirchner das Thema dann zunehmend ins Symbolisch-Vitalistische. Tanz wird zur Metapher für das Leben. Man hätte dies sicher eindrücklich in der Ausgestaltung des Festsaals des Essener Folkwang-Museums mit dem Gemälde "Farbentanz" im Zentrum sehen können, für die Kirchner von 1928 an Entwürfe anfertigte, die dann aber nie realisiert wurde. Etliche dieser Tusche- und Aquarell-Entwürfe sind nun als Schlusspunkt gesetzt: Gruppen splitternackter Menschen in Ekstase.

Kirchners Kosmos: Der Tanz, bis 30. Dezember, Di., Do., Fr., Sa. 14 bis 17 Uhr, Mi. 16 bis 19 Uhr, So. 11 bis 17 Uhr, Aschaffenburg, Kirchnerhaus, Ludwigstraße 19

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