Kunst zwischen den Fronten:Wie national war die Moderne?

Kunst zwischen den Fronten: Früher "Russian", nun "Ukrainian Dancers": Pastellzeichnung von Edgar Degas aus der National Gallery.

Früher "Russian", nun "Ukrainian Dancers": Pastellzeichnung von Edgar Degas aus der National Gallery.

(Foto: The National Gallery, London)

Aus "russischen Tänzerinnen" wurden "ukrainische": Nach der Umbenennung eines Degas-Bildes in London gibt es auch kritische Stimmen zur Beanspruchung der Avantgarde für Kämpfe von heute.

Von Peter Richter

Als die National Gallery in London kürzlich eine Pastellzeichnung des französischen Impressionisten Edgar Degas von "Russian Dancers" offiziell in "Ukrainian Dancers" umbenannte, weil diese mit den ukrainischen Nationalfarben Blau und Gelb geschmückt seien, hat das weltweit mehr Aufmerksamkeit erregt, als Museen sie sonst in ihrem Tagesgeschäft erhalten. Die Umbenennung wurde als politisches Statement zu Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine wahrgenommen. Von einem "Mikro-Sieg" gegen den russischen Imperialismus war die Rede.

Wenn man mit Fachleuten für die Geschichte der Avantgardekunst in Osteuropa darüber spricht, mischt sich in das Verständnis für die Bedürfnisse nach Selbstbehauptung die Sorge einer nationalistischen Überbeanspruchung der Kunst und der Künstler. Der Berliner Kunsthistoriker und Ausstellungskurator Eckhart Gillen sieht Tendenzen einer "nachträglichen Renationalisierung" auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion, und zwar von allen Seiten: "Gustavs Klucis zum Beispiel, verheiratet mit der russischen Künstlerin Valentina Kulagina, gehörte zu den lettischen Schützen, die als Leibgarde von Lenin dienten. 1938 wurde er aus seinem Studio verhaftet und als ,lettischer Nationalist' erschossen, obwohl er sich immer als Sowjetkünstler verstand, der für die Utopie des Kommunismus arbeitete. Heute gilt er als lettischer Nationalkünstler, der in der lettischen Nationalgalerie in Riga einen eigenen Raum bekommen hat."

Die Kunst der Moderne habe eigentlich mit dem Prinzip der "Nationalkunst" gebrochen, sagt Gillen. Er erinnert an ihre Indienstnahme für den Ersten Weltkrieg, wo sie aufgepeitscht wieder in solche Kategorien zurückfiel. Nicht zuletzt gilt das für viele Expressionisten aus Deutschland. Für den Katalog zu der Ausstellung "1914 - Die Avantgarden im Kampf" in der Bundeskunsthalle Bonn hatte er den Beitrag über Malewitschs und Majakowskis Kriegspropaganda verfasst. Kasimir Malewitsch, der später oft seine Verbundenheit mit der Ukraine betonte, trat hier noch im Dienst des russischen Zarenreiches auf.

Kunst zwischen den Fronten: Bilder wie Kasimir Malewitschs "Mann in suprematistischer Landschaft" spielten 1930/31 wohl auch auf die hungernden Bauern in der Ukraine an.

Bilder wie Kasimir Malewitschs "Mann in suprematistischer Landschaft" spielten 1930/31 wohl auch auf die hungernden Bauern in der Ukraine an.

(Foto: mauritius images)

Dennoch sollte Malewitsch das Titelmotiv zur Ausstellung "Avantgarde & Ukraine" liefern, die 1993 in der Münchner Villa Stuck organisiert worden war, also kurz nach dem Unabhängigkeitsreferendum der Ukraine und in der Partnerstadt von Kiew. "Man wollte schon damals Abschied vom Sammelbegriff ,Russische Avantgarde' nehmen", sagt Gillen. Aber der Konstruktivismus zum Beispiel sei als künstlerisches Mittel, die Utopie des Kommunismus zu realisieren, eigentlich weder russisch noch ukrainisch, sondern dem Selbstverständnis nach sowjetisch gewesen. Auch bei einem erneuten Blick in den damaligen Katalog bleibe letztlich unklar, welche Kriterien über den Geburtsort der Künstler hinaus sinnvoll sein sollen für die Qualifikation als spezifisch ukrainische Kunst: "Das Licht, die Farben, das Thema, die Landschaft? Weit und horizontal ist sie auch in Russland."

Bemerkenswert, wie viele Künstler - von Alexander Archipenko über Alexandra Exter und El Lissitzky bis Alexander Tyschler - aus der Ukraine stammten oder dort tätig waren. Sogar Sonja Delaunay, neé Stern, war aus Odessa, was man oft vergisst, weil sie das Land bereits im Alter von sieben Jahren Richtung Frankreich verlassen hatte. Ohne die Ukraine hätte vieles, was man als russische oder sowjetische Avantgarde kennt, kaum stattgefunden. Den ukrainischen Beitrag zur Avantgarde aus diesem Schatten zu holen, war auch lange ein Forschungsanliegen der Kunsthistorikerin Marina Dmitrieva.

Avantgardekünstler wollten international sein und ließen sich dann doch in den Weltkrieg schicken

"Zwischen Stadt und Steppe: Künstlerische Texte der ukrainischen Moderne aus den 1910er - 1930er Jahren" heißt ein Sammelband, den sie bereits 2012 im Lukas-Verlag Berlin herausgegeben hat - in Zusammenarbeit mit Dmytro Horbatchov, der einst Chefkurator am Kiewer Museum für ukrainische Kunst gewesen war und bei der Münchner Ausstellung von 1993 eine wesentliche Rolle spielte. Auch Dmitrieva plädiert allerdings dafür, darüber nicht in neue, der alten imperialen Auffassung nur entgegengesetzte Dogmen zu verfallen.

Sie ist erreichbar in Leipzig, wo sie bis zur Pensionierung am Leibniz-Institut für Geschichte und Kultur des östlichen Europa tätig war. Und natürlich geht es bei so einem Gespräch wie so oft in diesen Tagen erst einmal um die typischen postsowjetischen Gemengelagen zwischen russischer Sprache und Herkunft und Solidarität mit den Freunden aus der Maidan-Bewegung in Kiew. Das beeinflusst auch den Blick der Wissenschaftlerin auf rückwirkende Nationalisierungstendenzen: "In der jetzigen Situation kann man das verstehen und vielleicht auch unterstützen, um ein Zeichen zu setzen, dass die Ukraine sichtbar wird, dass die ukrainische Kunst sichtbar wird. Danach werden aber hoffentlich wieder normalere Zeiten kommen, in denen man alles differenzierter betrachten wird."

Sie sagt: "Das wird die ukrainische Avantgarde nur aufwerten, wenn man sieht, wie viele Kontakte nach außen die gehabt hat. Weil die Avantgarde eigentlich international war. Die radikale Avantgarde lehnte das Nationale sogar eher ab. Einige gaben sich antirussisch, andere wiederum suchten Verbindungen zum Geschehen in Moskau." Auch die Texte der Avantgarde in ihrer Anthologie sind nur zum Teil auf Ukrainisch verfasst worden, ein Großteil entstand auf Russisch, viele auf Yiddisch.

Die Londoner Umbenennung von Degas' Tänzerinnen hält sie für übereilt. "Ich glaube, dass es eine Entscheidung war, die etwas im Eifer des Gefechtes entstanden ist. Degas war um 1899 von einer Truppe inspiriert, die in Paris Volkstänze vorgeführt hat. Die Tänze und die farbenfrohen Kostüme können als ukrainisch erkannt werden. Da die Ukraine damals Teil dessen war, was wir heute im Deutschen als Russländisches Reich bezeichnen, begriff sie Degas als 'russe', russisch. Das ist eine Reihe von Pastellbildern, die jetzt in verschiedenen Museen aufbewahrt werden und allesamt 'Russische Tänzerinnen' heißen. So viel ich weiß, sind andere Bilder bisher nicht umbenannt worden." Ihrer Meinung nach hätte man den Titel des Künstlers im Interesse historischer Genauigkeit behalten und in einer Erläuterung das ukrainische Motiv erklären sollen.

Dmitrieva verweist auf die Blüte der Ethnografie in den damaligen Vielvölkermonarchien Europas, im Zarenreich nicht anders als in Österreich-Ungarn, auf das gewissermaßen dialektische Interesse an den nationalen Kulturen ausgerechnet in den multinationalen Imperien, die Herausstellung der jeweiligen Volkskunst und Folklore etwa bei den Selbstpräsentationen auf der Weltausstellung von 1900. Entsprechend komplex verhielt es sich mit den Identitäten dann offensichtlich auch in der jungen Sowjetunion: "Alexander Bogomasow aus der Gegend von Charkiw zum Beispiel hatte in der Akademie der Künste in St. Petersburg studiert und später einen der interessantesten theoretischen Texte über die Grundlagen der modernen Kunst in der Ukraine verfasst, aber auf Russisch." Ein anderes Beispiel seien die Texte von David Burljuk, der allgemein als Begründer des russischen Futurismus gilt. "Aber er ist in der Ukraine geboren, und da gab es schon von ihm auch so ein Bekenntnis zu seinem Ukrainertum, eine Selbststilisierung als Kosake."

Die Flagge der Ukraine ist selbst fast ein Gemälde. Auch viele Russen wollen neue Farben

Das Kosaken-Thema bringt das Gespräch auf "Die Saporoscher Kosaken schreiben dem Sultan einen Brief" von Ilja Repin, das vielleicht berühmteste Bild aus dem Russischen Museum, einen Direktankauf durch Zar Alexander III., das damals teuerste Bild eines russisches Künstlers. Aber Repin sei ja selber in Tschugujew geboren, ruft Dmitrieva: "Das ist in der Ukraine! Bei Charkiw." Auch sie interpretiert es so, dass mit dem Schmähbrief der freiheitsliebenden Kosaken an den Sultan implizit der russische Despot angesprochen wurde, der es dann auch noch selbst erwarb. Deswegen habe das Gemälde so eine Resonanz gehabt.

Kunst zwischen den Fronten: Repins "Saporoscher Kosaken schreiben dem türkischen Sultan einen Brief" von 1891 zeigt gelbblaue Banner und ließ sich immer auch als Kritik an Moskaus Imperialismus lesen

Repins "Saporoscher Kosaken schreiben dem türkischen Sultan einen Brief" von 1891 zeigt gelbblaue Banner und ließ sich immer auch als Kritik an Moskaus Imperialismus lesen

(Foto: imago stock/H. Tschanz-Hofmann)

"Die Saporoscher Kosaken oder ,das Ukrainische' war für viele das Symbol für die Freiheit, ähnlich wie der Kaukasus für die russischen Schriftsteller im 19. Jahrhundert. Da geht es um die, die sich nicht unterdrücken lassen. Und dabei ist ja auch eine sehr interessante Tradition der Groteske entstanden in der Ukraine, am Theater und in der Literatur." Damit sind wir bei Nikolai Gogol, der als russischsprachiger Schriftsteller immer viele Ukrainismen verwendet hat. "Seine Novellen zum ukrainischen Leben legen auch wieder die Frage nahe: Wem gehört Gogol? Das ist ähnlich wie bei Malewitsch. Das ist einfach nicht möglich zu definieren: geboren in Kiew als Sohn polnischer Eltern, studierte in Moskau, hat in Moskau, Leningrad und Kiew gearbeitet, ist Begründer der abstrakten transnationalen Kunst - des Suprematismus."

Am Ende seiner Laufbahn, als Malewitsch Leningrad verlassen musste und wieder in Kiew wirkte, kam es aber eben auch zu seiner berühmten Rückwendung nicht nur zur Gegenständlichkeit, sondern auch zu ukrainischen Sujets: Bauernfiguren vor flachen Feldern, farbig wie Volkskunst und ohne Gesichter, so wie ukrainische Strohpuppen. Dmitrieva stimmt zu, dass es kaum möglich ist, diese Bilder gesichtslos in der Landschaft verschwindender Figuren nicht als bitteren Kommentar zu dem gleichzeitig stattfindenden Holodomor zu lesen, also zu der millionenfachen Vernichtung ukrainischer Bauern durch schieres Verhungernlassen, um sie für ihren Widerstand gegen Moskaus Zwangskollektivierungen zu strafen. Aber das Kiewer Kunst-Institut, an dem er damals lehrte, sei zugleich eine Art ukrainisches Bauhaus gewesen. "Kennen auch ganz wenige, was da passiert ist: äußerst fortschrittliches Programm, wiederum auch mit Leuten aus Russland, Tatlin zum Beispiel."

Das Interesse an bäuerlicher Folklore, das manchmal als Spezifikum einer ukrainischen Moderne dargestellt wird, sei zumindest kein Exklusivmerkmal. Dmitrieva verweist auf Ähnliches im polnischen Künstlerdorf Zakopane, im russischen Abramzewo oder im damals österreichisch-ungarischen Siebenbürgen. Viele Avantgardisten in der Ukraine hätten sogar eher eine entgegengesetzte Stoßrichtung vertreten: "Sie wissen, was eine Wyschywanka ist? Diese traditionell bestickten Hemden. Die werden gerade jetzt aus Prinzip wieder viel getragen. Für viele Künstler damals waren die aber ein Inbegriff der Rückständigkeit. Die wollten eine Modernisierung der ukrainische Kultur, keine Folklorisierung, nicht die Kultur des Landes, sondern die Kultur der neuen Städte."

In dem Blau und dem Gelb, das in der National Gallery nun zum entscheidenden Argument für die Umbenennung von Degas' Tänzerinnen wurde, scheint allerdings all das noch einmal zusammenzukommen: Stadt und Land, Geschichte, Freiheit und Staatlichkeit. Dmitrieva würde nicht sagen, dass das zu Degas' Zeiten international schon als ukrainische Nationalfarben erkennbar war. Aber es gab immer schon Fahnen der Kosaken in diesen Farben, wie man auch auf Repins Bild sehen kann. Mit der Ausrufung der unabhängigen ukrainischen Republik nach der Februarrevolution von 1917 wurde dann eine offizielle Staatsflagge daraus: das flache Land der gelben Kornfelder unter strahlend blauem Himmel. Selbst das hat ja etwas von einem avantgardistischen Gemälde an Malewitschs Kippgrenze zwischen Gegenständlichkeit und Abstraktion.

Am Ende kann halt selbst Heraldik ein Hoffnungsträger sein. Marina Dmitrieva erwähnt zum Abschluss die neue oppositionelle russische Flagge, die seit zwei Monaten von den Gegnern des Krieges dort verwendet wird: "Weiß-Blau-Weiß - ohne das Rot. Finde ich auch toll: Das steht für das neue, unblutige Russland der Zukunft."

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