Wien als "Marktlücke" für aufstrebende deutsche Künstler - ja, das ist schon ein Weilchen her. Sagen wir, gut 500 Jahre. Damals folgte ein bislang völlig unbekannter, knapp 30-jähriger Maler aus dem engeren Dürer-Umfeld in Nürnberg dem Zug deutscher Humanisten wie Konrad Celtis und Johannes Cuspinian nach Wien. An die Wiener Universität, wo Kaiser Maximilian I. große Erwartungen an sie knüpfte, ihnen gar ein "Kolleg der Dichter und Mathematiker" einrichten ließ. Und wo sich angesichts einer recht konservativen lokalen Kunstlandschaft bald, so wohl das Kalkül des ehrgeizigen Malers, der Wunsch nach Darstellung des eigenen neuen Rangs, sprich also nach Porträts, regen werde.
Besagte "Marktlücke", wie der Kurator des Kunsthistorischen Museums, Guido Messling, das Wiener Szenario um 1500 prosaisch benennt, das Lukas Cranach der Ältere geschickt als "Karrieresprungbrett" zu nutzen wusste, um in dieser Diktion zu bleiben. Noch nicht einmal seinen an den Geburtsort Kronach angelehnten Künstlernamen hatte er sich damals schon zurechtgelegt gehabt. Den benutzte er erst ab 1504. Da war er aus Wien schon wieder fortgezogen, Richtung der Stelle, auf der er sein Leben verbringen und auf der sich sein Ruhm als einer der erfolgreichsten Künstler der Renaissance begründen wird: als einflussreicher Hofmaler der sächsischen Kurfürsten. Gleich dreien davon wird er bis zu seinem Tod 1553 mit repräsentablen Gemälden, Dekorationen und Ausstattungen jeglicher Art gedient, nebenbei noch den neuen Thesen seines engen Freundes Martin Luther ihr Gesicht verliehen haben. Cranach wird die künstlerische Propaganda des Protestantismus prägen wie kein anderer.
Erstmals überhaupt sind hier Porträts inmitten einer Landschaft dargestellt
In Wien war von alldem, auch vom typisch gelängten, höfischen Stil Cranachs und seiner Werkstätte noch nichts zu merken. Hier herrschte noch Sturm und Drang, hier tobte er sich aus, konnte er in seinen Darstellungen nicht drastisch genug sein - "Cranach der Wilde" eben, wie die Ausstellung im Kunsthistorischen Museum treffend titelt. Erstmals wird dieser derart konzentriert vorgestellt, sind doch Werke aus den vergleichsweise geheimnisumwitterten Wiener Jahren selten - nur neun Gemälde und ein gutes Dutzend Zeichnungen und Holzschnitte sind gesichert.
Sechs der Gemälde konnte man insgesamt zusammentragen, zwei kommen aus der hauseigenen Sammlung, darunter die vor Blut nur so triefende "Schottenkreuzigung", die um 1500 schon datiert, oft als ältestes bekanntes Werk Cranachs geführt wird. Welcher wohl private Auftraggeber die recht kleine Tafel einst bestellte, wie sie vermutlich erst im 18. Jahrhundert ins Wiener Schottenstift kam, von dem das Kunsthistorische sie erwerben sollte, wird wohl ein Rätsel bleiben. Jedenfalls ist die Szene unglaublich, wie aus einem Hollywoodfilm: die zwei Schächer an den Kreuzen links und rechts der Hauptfigur aus extremer Untersicht vor dramatischem Himmel perspektivisch verzerrt.
In ihrer Mitte Christus fast in Splatter-Manier als Folteropfer präsentiert. Überall rinnt das Rot, sogar von seiner herausgestreckten Zunge tropft es. Die Füße krampfen und krümmen sich einzeln - Cranach hat sich nicht für den bereits üblichen Dreinagel-Typus, sondern den älteren Viernagel-Typus entschlossen, eine Wunde mehr hat seinem Konzept hier sichtlich gedient. Grotesk geht es auch zu ebener Erde zu: Da nagt gar ein Hündchen an den Knochen, die traditionell an den (biblischen) Wurzeln des Kreuzes begraben liegen. Bei der dicht gedrängten Gruppe der Feinde Christi auf ihren hohen Rössern scheint Cranach ein wenig durcheinandergekommen zu sein mit der Zahl der Hufe und der Reiter. Einer davon wirkt wie direkt aus dem Film "Der Herr der Ringe" importiert. Vor allem aber sieht man an diesen Figuren Cranachs Beschäftigung mit Trachten aus dem osmanischen, polnischen und ungarischen Bereich.
Das Herzstück der Ausstellung und des Frühwerks an sich aber prangt zentral auf der Mittelwand der kapellenartigen zwei Räume: Das Doppelporträt von Johannes Cuspinian und seiner Frau Anna, dank der Kooperation des Kunsthistorischen Museums mit der Sammlung Oskar Reinhart "Am Römerholz" in Winterthur in Wien. Einst befand sich das Diptychon, das man ursprünglich zusammenklappen konnte, der Mann verdeckte dabei die Frau, sogar in der Sammlung des englischen Königs Charles I. Höchstwahrscheinlich zur Hochzeit beauftragt, sind die zwei Tafeln ein beredtes Zeugnis des Selbstbewusstseins der humanistischen Elite in Wien. Sie beinhalten das ganze Weltbild Cuspinians, in der Dichtung und Naturwissenschaften zusammenkommen.
Erstmals überhaupt sind hier Porträts inmitten einer Landschaft dargestellt. Neun Musen rekeln und pflegen sich in dieser, winzig klein, leben in Frieden mit den vier Elementen, durchaus dramatisch dargestellt etwa in einer brennenden Ruine. Die vielen Vögel stehen wohl für die Luft, in ihrer Verkeilung aber auch für Sexuelles, für das Jagen und das Gejagtwerden. Fast verschwindend hinter Cuspinians rechter Schulter Apoll, Gott der Künste und des Heilens - war Cuspinian zwar Philosoph und Poet, aber auch Arzt. Fast romantisch verträumt aus heutiger Sicht - damals war damit wohl der nach innen gerichtete Blick gemeint - wendet er seine Augen hinauf ins Blau des Himmels, an dem untertags ein Stern leuchtet wie die Sonne. Frau Anna heftet ihren seltsamen, von unten kommenden Blick natürlich auf ihn. Acht Kinder wird sie ihm gebären. Er, gleich alt wie Cranach, wird Rektor der Universität werden, in den diplomatischen Dienst des Kaisers treten. Im Stephansdom ist er begraben. Durch die "Marktlücke", die Cranach in Wien einst nützte, bleiben sein Abbild und seine Ideologie unsterblich.
Cranach der Wilde. Die Anfänge in Wien. Kunsthistorisches Museum , Wien. Bis 16. Oktober. Der Katalog kostet 24,95 Euro.