Süddeutsche Zeitung

Kunsthalle Schirn:Die Freiheit im Absurden

In den Arbeiten des holländischen Videokünstlers Aernout Mik stehen sich Polizisten und Demonstranten gegenüber. Was passiert, wenn sie die Rollen wechseln?

Von Till Briegleb

Ophiocordyceps unilateralis ist ein Parasit, der die Kontrolle über Ameisen gewinnt. Der Pilz wächst auf deren Exoskelett, dringt in ihre Gehirne ein, und manipuliert die weiteren Entscheidungen des Insekts. Zielstrebig bewegt sich Formicula dann dahin, wo der Pilz optimale Lebensbedingungen vorfindet, beißt sich fest und stirbt. Und das tut Ophiocordyceps unilateralis seit mindestens 48 Millionen Jahren. Deswegen wäre dieser gemeine Krustenkugelpilz das ideale Wappenwesen für Aernout Mik. Die gepanzerte Staatsmacht, die der holländische Videokünstler seit 30 Jahren in seinen Fake-Dokumentationen auftreten lässt, verliert immer irgendwann die Kontrolle über ihre Funktion. Wie ferngesteuert operieren Exekutivkräfte dann plötzlich in Sachen Selbstentwaffnung oder opfern sich bereitwillig dem Absurden.

Die zwei neuen 40-minütigen Arbeiten Aernout Miks, "Double Bind" und "Threshold Barriers", die jetzt in der Frankfurter Schirn einen Dialog über die Auftritte von Spezialeinheiten führen, zeigen diesen irritierenden Autoritätsverlust in einer statischen und einer fließenden Version. In der Zweikanal-Arbeit "Threshold Barriers" vollführen blutende Demonstranten und Polizisten in einem Barrikadenverhau aus Absperrgittern, Stangen und Sperrmüll ein langes Ritual gegenseitiger Einkesselung und Entkleidung. Im Video-Triptychon "Double Bind" gegenüber im Raum bewegt sich eine schwer bewaffnete Einheit für Terroristenbekämpfung durch eine französische Großstadt und eine Vorstadtsiedlung, wo sie schleichend Disziplin und Beherrschung verlieren.

Die zunächst in martialischer Kampfeinsatzformation in die Gegend zielende Squad purzelt irgendwann aus einem Einsatzwagen, krabbelt auf allen vieren im Entenmarsch über die Bürgersteige, drückt ihre Gesichter gegen Häuserwände. Konfusion und Erschöpfung machen sich breit, ohne dass die Truppe den angespannten Ernst eines echten Einsatzes verliert. Konzentriert sitzen gepanzerte Männer und Frauen auf den Gehsteigen, bauen Maschinenpistolen auseinander und gruppieren die Teile hübsch auf dem Trottoir. Oder sie dringen in eine weiße Plastiklandschaft ein, die als steriler Pausenraum dient, in dem die Polizei halbnackt an sich herumdrückt.

So absurd es sich anhört, Aernout Mik macht die bewaffnete Beamtenschaft mit diesen Entgrenzungen ins Irrationale nicht lächerlich. Er verwandelt sie vielmehr zurück in verletzliche Menschen. Die sture Zielgerichtetheit ihrer Aufträge bekommt plötzlich eine Wendung ins Fragende. Die Ergebenheit in erlernte Befehlsstrukturen löst sich Schritt für Schritt auf für ein Gefühl befreiender Erleichterung. Vor allem in der Erwartung der Betrachter, die durch Medienkonsum auf klare Zuschreibungen von guten und bösen Konfliktparteien konditioniert sind.

Mik modifiziert die Situation so, dass die Protagonisten ihre Rolle im menschlichen Ameisenstaat nicht mehr erfüllen können

Diese Methodik der grotesken Gehorsamsbefragung hat Aernout Mik in aufwendigst inszenierten Szenarien immer wieder umgesetzt. Mik nahm in mehreren Projekten die Jugoslawienkriege als Hintergrund, etwa um in einer zum Gefangenenlager umfunktionierten Turnhalle die Wahrnehmung von Bewachern und Bewachten in verblüffender Subtilität zu vertauschen, bis Gut und Böse nicht mehr zu unterscheiden waren. Mehrfach hat Aernout Mik auch die Beziehung von Geflüchteten und Lageraufsehern als umkehrbar dargestellt. Er verwandelte aber auch eine Börse oder eine parlamentarische Ausschusssitzung in Orte sonderlicher Aktionen. Broker bewegten sich, als seien sie vollkommen unbeobachtet. Demonstranten und Politiker spulten in einem Raum ihr eigenes Programm ab, als sei die andere Gruppe Luft.

Stets ist Miks Ausgangslage das scheinbar asymmetrische Machtverhältnis wie zwischen Ameise und Pilzspore. Der Videokünstler als Manipulationsparasit modifiziert dann die Kräfte der Herrschaft, indem er so in die sozialen Naturgesetze eingreift, dass die Protagonisten ihre vorbestimmten Rollen im menschlichen Ameisenstaat nicht mehr erfüllen können. Und schließlich befällt das Gesetzmäßige eine befreiende Müdigkeit.

Für "Threshold Barriers", das für die große Rauminstallation in der Schirn extra produziert wurde, ist das irritierende Rollenspiel besonders nah ans absurde Theater geführt. Schon die Kostümierung der Protestabteilung erinnert eher an eine Technoparade. Regenhüllen mit Gepard-Print, goldene Masken, wie Rapper sie aufsetzen, Fliegenpilz-Hoodies, die wie teure Markenentwürfe aussehen, oder ein lustiges Hasenkostüm zeigen wenig modische Gemeinsamkeiten mit dem Schwarzen Block, der sich sonst mit der Polizei prügelt. Auf der anderen Seite erscheinen die nett aussehenden Bereitschaftspolizisten und -polizistinnen trotz ihrer Kampfuniformen und der blutbeschmierten Gesichter wie eine Spezialeinheit für Deeskalationstraining.

Die Inszenierung des entgleitenden Machtgebrauchs bei Aernout Mik ist aber keineswegs nur eine Kritik an bedrohlich aufgerüsteter und gesichtsloser Staatsgewalt. Gerade in den Protestformaten gegen die Polizei existieren ja festgelegte Rollen auf beiden Seiten, die diese konfrontativen Situationen wie Rituale eines Räuber-und-Gendarm-Spiels erscheinen lassen. Die Pilze, die Demonstranten befallen, sind dann eher ideologischer Natur und zwingen zum Feindbilddenken. Aber zwischen beiden entdeckt Aernout Mik ein Zwischenreich, die Freiheit des Absurden. Und die macht die Gegner dann plötzlich sehr menschlich.

Aernout Mik, Kunsthalle Schirn, Frankfurt. Bis 3. Oktober 2022.

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