Kunst in Berlin:Torpedo auf Zeitreise

Eine Meistererzählung der Avantgarde: Das Museum of Modern Art breitet seinen reichen Bestand in der Neuen Nationalgalerie aus.

Von Holger Liebs

Drei Schritte führen ins Paradies der modernen Kunst. Nummer eins: Man durchschreitet den Glasvorhang der Neuen Nationalgalerie - und steht unter dem kühl abgewandten Rücken von Rodins "Balzac", jener einförmigen, gleichsam phallisch aufragenden, gewaltigen Gestalt, die über mächtigem Sockel das Erdgeschoss des Museums überwacht - und in seinen schrundigen Oberflächen wie einer brodelnden Urmaterie entrissen scheint.

Es ist freilich ein wenig trostlos, was Balzac, dieser Hüne des 19. Jahrhunderts, überblickt: Zwischen Mantelständerreihen, Feuerlöschern, Mülleimern und Holz-Kabinetten stehen oder liegen die fragilen, nicht eben winzigen minimalistischen Quadratgebilde von Sol LeWitt oder Carl Andre, die eigentlich eine möglichst neutralen white cube bräuchten, um ihre theatralische Wirkung zu entfalten, so herum, als wären sie in diesem Lagerhallen-Ambiente einfach noch nicht abgeholt und eingepackt worden.

Nummer zwei: Am unteren Ende der Kellertreppe lockt der Merchandising-Shop mit Mies-Mousepads, bunten Calder-Mobiles und Pepita-Hütchen im Warhol'schen Camouflage-Muster. Die kleine Shoppingmeile ist als Gelenkstelle des spektakulären Gastspiels der Sammlung vom Museum of Modern Art in Berlin nur allzu logisch: Wenn das MoMA ein "Star" ist, wie Peter-Klaus Schuster, der Generaldirektor der Berliner Museen, erklärt, oder doch eher die Kunstwerke selbst hollywoodmäßig strahlen sollen, wie Glenn Lowry, der MoMA-Chef, auf der Pressekonferenz mit Nachdruck berichtigte, dann macht auch der Handel mit entsprechenden Memorabilia und Devotionalien Sinn.

Erst im dritten Schritt gelangt man dann zur eigentlichen Sensation der Schau, den Paradestücken des MoMA, die, abgesehen von den Großskulpturen, vom heutigen Freitag an in den eleganten unterirdischen Raumfolgen der Neuen Nationalgalerie ausgestellt sind. Um diesen hortus conclusus zu erreichen, lässt man also Lagerhalle und Shoppingmall hinter sich - und befindet sich mitten in einer Galerie moderner Meisterwerke, die weltweit ihresgleichen sucht.

So sind, wenn auch anders als ursprünglich erdacht, vom Depot über die Produkte der Massenkultur und die Architektur bis zur hohen Kunst alle Merkmale der anfänglichen MoMA-Konzeption symbolisch im Mies-Bau präsent - diese umfasste ja neben der Avantgardekunst auch Industrieprodukte, Fotografie, Film und Architektur. Alfred H. Barr Jr., Gründungsdirektor des MoMA, hatte ursprünglich Mies van der Rohe für den Museumsneubau gewinnen wollen. Gebaut haben das MoMA dann im Jahre 1939 zwei amerikanische Architekten - mit einer modernistisch-sachlichen Fassade, die bezeichnenderweise wie Kaufhausarchitektur daherkommt.

Ein "Torpedo, der sich durch die Zeit bewegt", sollte das Museum of Modern Art in New York laut Barr sein, ein schnelles Projektil, das seine "Nase in der ewig voranschreitenden Gegenwart, seinen Schwanz in der ewig zurückweichenden Vergangenheit der letzten 50 bis 100 Jahre" haben solle. Die Bahn dieses MoMA-Torpedos war also geradlinig gedacht, als in jedem Punkt schlüssiger Königspfad der modernen Kunst von ihren kanonischen Anfängen um Cézanne und van Gogh, den Türaufbrechern der Abstraktion, bis hin zu einer Gegenwart, die sich ganz im Sinne von Barrs Maschinenästhetik nicht nur in avantgardistischen Werken der hohen Kunst, sondern auch im Fortschrittsdenken der Industrieproduktion erfüllen sollte.

Nach Berlin verschifft wurden ausschließlich Malerei und Skulptur, und schon der Versicherungswert von 2,4 Milliarden Euro, für den der Bund einsteht, spricht Bände über den Rang dieser etwa 200 Exponate. Für diese Werke, vom MoMA-Kurator John Elderfield aus etwa 400 Bestandswerken ausgewählt, zahlten die Freunde der Nationalgalerie außerdem etwa 4,5 Millionen Euro Leihgebühr ans MoMA, mehr als die Hälfte des Gesamtetats. Also muss die Besucherzahl schon documenta-Stärke erreichen, wenn sich das Unternehmen "MoMA in Berlin" nach sieben Monaten Ausstellungsdauer rechnen soll.

Vieles spricht dafür, dass dies gelingt. Die Schau im Untergeschoss der Nationalgalerie ist überwältigend, alles an ihr ist superlativisch und auf Genuss oder auratisches Erlebnis einzelner Inkunabeln der Moderne ausgerichtet. Beleuchtung und Hängung sind gelungen, bisweilen besser als im New Yorker Stammhaus.

Nach dem ersten Saal mit Postimpressionisten und Symbolisten, dem zweiten mit den formatsprengenden, friesartig wandfüllenden "Seerosen" von Monet und den am Ende dieser Hauptachse präsentierten Großwesiren der Moderne, Picasso und Matisse, teilt sich die Ausstellung in einen amerikanischen und einen europäischen Flügel, bevor der doppelgleisige Erzählstrang der Schau um 1970 herum endet und lediglich Ausblicke in jüngere Sammlungsbestände bietet, mit den fleischfarben-bedrohlichen Ku-Klux-Klan-Bildern von Philip Guston einerseits (vorwiegend aus den späten Siebzigern) und, auf dieser Seite des Atlantiks, dem Malzyklus "18. Oktober 1977" von Gerhard Richter über den Tod der RAF-Terroristen in Stammheim; er entstand 1988.

Fast unbehelligt von den Sackgassen und Richtungswechseln der Postmoderne kann also Barrs "Torpedo" seine kostbare Fracht, die Meistererzählung der Avantgarde, vorantreiben. Die grinsenden Todesmasken von James Ensor und Edvard Munchs gesichtslose Frauenschemen im nordischen "Sturm" rahmen an der Zeitenwende vom 19. zum 20. Jahrhundert kraftvoll-düster den Aufbruch in die Moderne; dieser nimmt eher heiter-friedvoll Gestalt an, mit nackten Jünglingen von Cézanne ("Der Badende") und dem frühen Picasso ("Knabe, ein Pferd führend"), der jenseitig leuchtenden "Sternennacht" von van Gogh und einem mondbeschienenen Dschungel des Zöllners Rousseau.

Wenn die "Seerosen" danach den Blick entgrenzen und in die Weite führen, steht man vor einer kontinentalen Weiche. Der Blick fällt schnell auf Edward Hoppers "Haus am Bahndamm", dem ersten Werk, welches das MoMA 1925 ankaufte. Hinter rostig roten Eisenbahnschienen ragt wie in Hitchcocks Film "Psycho" ein historistisches Gemäuer im Sonnenlicht auf, so einsam wie die Passanten in Balthus' surreal verrätselter "Straße", dem letzten europäischen Reflex in transatlantischen Gefilden, bevor es hineingeht ins Kapitel der New York School.

Die Farbschlieren Pollocks, Newmans "zips", de Kooning und Clyfford Still führen geradewegs ins Erhabene der neoexpressiven Nachkriegskunst, bevor die kühle Farbfeldmalerei Frank Stellas und ein schwarzes Kreuz auf schwarzem Grund von Ad Reinhardt wieder zurück zur Oberfläche dringen, die Alltagsästhetik der Pop Art vorbereitend. Zielscheiben von Jasper Johns und Kenneth Noland, die Leinwand als Army-Jeep mit Plane und Reifen bei Rauschenberg, Lichtensteins Comics - spätestens die Werke Warhols, Dollarnoten und das "Vorher-Nachher" einer Gesichtsoperation, werfen die Frage auf, ob nicht die Sammlung der Nationalgalerie das New Yorker Gastspiel mit eigenen Prachtstücken hätte bereichern sollen.

Immerhin gewann man Joschka Fischer und Colin Powell als Paten der Schau - aber wo blieb der transatlantische Dialog, von dem sie in ihren Grußworten sprechen? Er ist komplett von drüben gesteuert. Wie hätte sich etwa Barnett Newmans Hauptwerk "Who's Afraid of Red, Yellow and Blue" aus der Nationalgalerie hier gemacht, als bildraumentgrenzendes Pendant zu Monets "Seerosen"? Und dann wollte man im MoMA Picassos "Demoiselles d'Avignon" oder Newmans "Vir Heroicus Sublimis" nicht herausgeben - sie hätten alle anderen "Stars" überstrahlt. Ähnliches gilt für die Werke Max Beckmanns aus New York und Berlin - sie zusammenzuführen wäre ein Gewinn gewesen. Beckmanns "Selbstbildnis mit Zigarre", das Triptychon "Abfahrt" als rüde Allegorie des Exils, sind immerhin an Bord.

Und Picasso ist neben Matisse überaus präsent, er collagiert neben Braque vom "Kartenspieler" bis zur "Mandoline" kubistische Stillleben, seine bronzene "Ziege" reckt unbeirrt ihren Hals in die Leere. Duchamp, de Chirico, Klee, Man Ray, Magrittes Auge mit wolkiger Iris und Giacomettis "Frau mit durchgeschnittener Kehle", verwandelt in ein Insektenungetüm - die Europäer bilden den Mittelbau von Barrs Avantgarde-Torpedo, sie dürfen den Siegeszug der amerikanischen Nachkriegsmoderne überaus machtvoll und zahlreich vorbereiten. Aber die fünf Arbeiten der Russen - Malewitsch, Popowa, Rodtschenko - sowie die suprematistische Komposition von Laszlo Moholy-Nagy hätte man leicht um die nicht minder wichtige Gebrauchskunst der revolutionären Avantgarde, um Plakate und Architekturentwürfe etwa, ergänzen können.

Die Werke der Deutschen schließlich, hervorragende Porträts neusachlich-kühler Typen von Dix und Grosz sowie der Richter-Zyklus, sind höchst sparsam vertreten und noch dazu durch eine Glaswand abgetrennt, gleichsam verbannt ins letzte Eck der Raumfolge. Richters RAF-Bilder immerhin sind ein angemessen beunruhigender Ausklang der Schau: Sie zeigen Gudrun Ensslin, Baader in der Zelle, ein Jugendbild der Meinhof vor allem als malerische Reflexionen, virtuos durchgespielt bis in die feinste Schliere.

So endet das Gastspiel unvermittelt im Unbewältigten deutscher Gegenwart - und lässt vorausahnen, dass das "MoMA in Berlin" wohl für eine Weile die dortige Ausstellungsmisere zu überstrahlen vermag. Der transatlantische Dialog jedoch bleibt ferngesteuert - das MoMA selbst bleibt der Star, seine Werke müssen sich mit nichts und niemandem messen.

Bis 19. September. Der Katalog kostet in der Ausstellung 29 Euro. "American Season", das Kulturprogramm der Berliner Festspiele: www.americanseason.de.

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