Ausstellung im Haus der Kunst in München:Vertigo-Visionen

Ausstellung im Haus der Kunst in München: Die britische Bildhauerin Phyllida Barlow baut Ruinen: "untitled: 11 awnings" (2013).

Die britische Bildhauerin Phyllida Barlow baut Ruinen: "untitled: 11 awnings" (2013).

(Foto: Collection of the artist, London)

Das Haus der Kunst in München ist endlich wieder auf - und zeigt Phyllida Barlow. Über eine Ausstellung, die auf Vollständigkeit verzichtet, nicht aber auf Humor.

Von Catrin Lorch

Die splitterigen Vierkanthölzer staken lose im Raum, sind nicht einmal verzapft oder verdübelt. Klumpen von Gipsbinden halten die verblichenen Latten zusammen, tüpfeln das Riesenkonstrukt mit frischem Weiß und lenken den Blick nach oben - wo gewaltige, weiße Kuben lose auf die hohen Stelzen aufgelegt sind. Phyllida Barlow hat "untitled: blocksonstilts" (2018/2019) für den Auftritt im Münchner Haus der Kunst sogar um zwei von diesen Riesenklötzen erweitert, jetzt streckt sich die Konstruktion in dem monumentalen Saal mehr als sieben Meter hoch bis fast unter die Decke.

Von der luftigen Installation aus sind es nur ein paar Schritte bis zur Unterwelt, undurchdringlich und düster wie eine Tropfsteinhöhle öffnet sie sich hinter dem Durchgang zur zentralen Halle. Doch bei aller Massivität, für die sichtbar eine ganze Menge Beton verknetet wurde, wirkt auch diese Installation fast provisorisch. Phyllida Barlow kann das: schweren, tiefgrauen Beton so verspachteln wie eine Kleckerburg. Und daneben splitteriges, billiges Bauholz zur großen Impression aufschichten, so hoch wie einen Kirchturm. Oder zumindest dessen Treppenhaus. Wie in "Vertigo", dem Hitchcock-Film. Denn es ist immer etwas Verstörung dabei.

Die im Jahr 1944 in Newcastle upon Tyne geborene Bildhauerin zog als Kind in das von deutschen Bombern zerstörte London. Es ist zu spüren, dass sie in der Metropole früh nicht nur dem Bild von Zerstörung ausgesetzt war, sondern auch den Visionen eines ähnlich zerstörerischen Wiederaufbaus. Phyllida Barlow scheint ein natürliches Verhältnis zur Ruine wie zum modernen Experiment zu pflegen - und zu allen Zuständen dazwischen auch. Schon weil sie bevorzugt mit Bauholz arbeitet, mit Plastikröhren, Beton, kräftigem Tuch und Wandfarbe. Und weil sie schon früh klar gemacht hat, dass sie all das Gießen und Schweißen doch als "vorwiegend männliche Aktivitäten" empfinde.

Die Bildhauerin galt lange als "artists' artist"

Dass das Münchner Haus der Kunst die erste große Vernissage im Zuge der Lockdown-Lockerungen "Phyllida Barlow. Frontier" widmet, ist auch deswegen stimmig, weil jetzt programmatisch weibliche Kunst einziehen soll in den Ostflügel des Ausstellungsbaus. Diesen hatte Okwui Enwezor mit einer Einzelschau von Louise Bourgeois im Jahr 2015 überhaupt erstmals komplett dem Werk einer Künstlerin geöffnet.

Phyllida Barlow galt bis zu ihrem Auftritt auf der Biennale von Venedig im Jahr 2017 im britischen Pavillon als "Artist's Artist", als eine Künstlerin, die - von Kollegen hochgeschätzt - der Öffentlichkeit eher unbekannt ist. Die Ausstellung in München mit mehr als hundert Werken wird das als monumentale Einzelschau nachhaltig ändern, auch die Einladung der Staatsoper, wo sie - voraussichtlich - im Juli Premiere feiern wird. Und Phyllida Barlow ist nicht nur in ihrem Rang unbestritten, sondern hat als Lehrerin an der Slade School of Fine Art gleich mehrere Generationen geprägt, darunter Stars wie Rachel Whiteread und Douglas Gordon, Spartacus Chetwynd und Eva Rothschild.

Doch zeigt die gewaltige Ausstellung leider nur einen Ausschnitt ihrer Arbeit. Denn obwohl eine Retrospektive dieses sich über mehr als sechzig Jahre erstreckenden Oeuvres dringend ansteht, sind in München überwiegend Arbeiten aus den vergangenen zwanzig Jahren zu sehen - mit versprengten Ausnahmen wie frühen farbigen Zeichnungen, einer aus Fernseher und Gips zusammen geklitterten Skulptur und der Rekonstruktion von "Shedmesh" (2020), einem Schlüsselwerk aus den Siebzigerjahren, das als weißer Kubus mit der Perfektion des Minimal souverän bricht, weil die Stoffstreifen, aus denen die Skulptur besteht, die glatten Kanten in knotigem Wirrwarr zerfransen.

Solche vollkommen eigenständigen und selten gezeigten Werke machen neugierig auf mehr - zumal die Besucher in München auf diese Art von aktivistischer Kunst durch die große Franz Erhard Walther-Werkschau, die unmittelbar zuvor gezeigt wurde, vorbereitet sein werden. Dass Phyllida Barlow selbst die meisten ihrer frühen Werke nicht verwahren konnte - zum einen weil sie nicht auf Dauer angelegt waren, zum anderen weil es in der britischen Nachkriegszeit nur wenige Sammler für diese Kunst gab - entschuldigt das Versäumnis nicht. Es hätte gerade im Süddeutschen und der Schweiz frühe Werke als Leihgaben gegeben. Doch die Ehre, dieses außerordentliche Werk aufzuarbeiten, das die britische Kunst mit so bedeutenden Künstlerinnen wie Louise Bourgeois oder Eva Hesse und Rosemarie Trockel kurz schließt, wird sich die Tate Gallery nun wohl nicht entgehen lassen.

Das Haus der Kunst bereitet dafür mit den vergleichsweise bunten Installationen der vergangenen Jahre der durchaus auch humorvollen Phyllida Barlow einen souveränen Auftritt in der klobigen NS-Architektur: Die Bildhauerin pflanzt klobige Schirme aus Gipsbinde und dickem Filz auf die Riesenfliesen und hängt Balkone so unvermittelt an die hohen Wände, als hätten Schwalben dort ihre Nester angekleistert. "Die Art wie Gegenstände scheitern, hat etwas Komödiantisches" soll Phyllida Barlow einmal im Zusammenhang mit Buster Keaton gesagt haben. Es ist ihrem Werk zu wünschen, dass es nicht nur in seiner kulissenhaften, chaotischen, kinoleinwandbreiten Unbekümmertheit aufgeschlossen wird. Sondern auch seine epischen, tragischen Qualitäten entfalten darf, ohne die jeder Slapstick nur ein großer Witz wäre.

Phyllida Barlow. Frontier im Münchner Haus der Kunst bis zum 25. Juli. Es erscheint ein Katalog.

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