Süddeutsche Zeitung

Kunst:Flügel des Schmetterlings

Jean Dubuffet holte die Kunst psychisch Kranker in die Hochkultur. Vor allem aber lernte er von ihr, sich keinen äußeren Regeln zu unterwerfen. Das zeigen zwei Ausstellungen in Basel und Heidelberg.

Von Kia Vahland

Nach 1945 fragte erst einmal niemand nach dem großen zweiteiligen Holzschrank, den die psychiatrische Klinik von Heidelberg verwahrte. In den tiefen Schubladen lagerten Zeichnungen von Patienten, die der Arzt Hans Prinzhorn nach dem Ersten Weltkrieg für seine Studie zur "Bildnerei der Geisteskranken" gesammelt hatte. Einige der Blätter zeigten die Nazis später in ihrer Schandausstellung zur "Entarteten Kunst", um sie mit den Ideen der künstlerischen Avantgarde gleichzusetzen. Die Propaganda verfing. Taten sich die Deutschen in den Vierzigerjahren schon mit Künstlervereinigungen wie "Brücke" und Bauhaus schwer, so fremdelten sie vollends mit den oft obsessiven Werken von Psychiatrieinsassen.

Der erste Gast, der fünf Jahre nach Kriegsende bat, den Schrank zu öffnen, kam aus Frankreich. Der Maler Jean Dubuffet (1901 - 1985) sammelte Zeichnungen von gesellschaftlichen Außenseitern. Diese Werke nannte er Art brut. Seiner Meinung nach war diese Kunst unverstellter, unangepasster und darum wahrhaftiger als die Schöpfungen anerkannter Künstler, die um Geld und Ruhm bangten. Doch er wusste auch, dass "es ebenso wenig eine Kunst der Geisteskranken gibt wie eine Kunst der Magenkranken". Entsprechend streng notierte er in einer Liste seine Urteile zu den Blättern im Schrank: von "sehr gut" über "mittelmäßig" bis "keine große Sache" reichten seine Kommentare.

Dieser Maler ist vor allem eines: wandlungsfähig. Alle paar Jahre wechselte er seinen Stil

Nun stellt die Sammlung Prinzhorn die Werke aus, die Dubuffet bei seinem Besuch im September 1950 sah. Es zeigt sich, dass dem Maler die Stücke am besten gefielen, die am weitesten von normaler Galerienkunst entfernt waren: kein Surrealismus, kein Expressionismus, erst recht nichts Realistisches, sondern Bilder, die gewollt oder nicht eine gewisse Rohheit ausstrahlen, eine reduzierte Strichführung, wenig oder keine Zentralperspektive, ein hartes Sichabarbeiten an was auch immer. Die Bestnote "extrem gut" verlieh Dubuffet dem gelernten Bäcker Johann Knopf, der schematisch gezeichnete Figuren in mühseliger Kleinstarbeit mit eng gesetzten Lettern überzogen hatte. Auch Prinzhorn fühlte sich vor Knopfs Arbeiten im besten Sinne an frühe Kulturen und Kinderzeichnungen erinnert.

Bisher wurde der in den Achtzigerjahren hoch gefeierte Dubuffet vor allem als Vorkämpfer eines Art-Brut-Stils in der Hochkunst gesehen. Seine Geschichte wird gerne erzählt als die eines Rebellen, der als Autodidakt die Kunstwelt umwälzte, gerade weil er ihr so fern stand.

Doch wer außer nach Heidelberg auch nach Riehen bei Basel fährt, reibt sich die Augen. In der großen Retrospektive Dubuffets, welche die Fondation Beyeler gerade ausrichtet, finden sich tatsächlich viele Bilder wie das Großformat "Le Voyageur égaré" ("Der verirrte Reisende"), das im Jahr der Heidelbergreise entstand: Ein schematisch umrissenes Bleichgesicht steht verbissen grinsend vor weitem Feld, ohne Halt zu finden. Denn es gibt keine Raumtiefe, keinen Boden und kein nah und fern, nur eine verkratzte, erdige Landschaft, die Dubuffet in einer Öl-Sand-Mischung grobschlächtig auf die Leinwand warf.

Das jedoch ist bloß eine Facette in einem enorm wandlungsfähigen Œuvre. Ähnlich wie Pablo Picasso wechselte Dubuffet regelmäßig alles: seine Figurenauffassung, seine Materialien, seinen Blick auf die Welt. Dieses Lebenswerk lässt sich nicht auf einen einzigen Begriff bringen.

Bunt und mutig wird Dubuffet, als er 1942 mit 41 Jahren seinen Beruf als Weinhändler aufgibt. Es entstehen lebenszugewandte Gemälde wie "Gardes du corps" von 1943: zwei gut trainierte Nackte, die mit ihren Schnurrbärten und großen Augen Zwillinge sein könnten. Doch ihre Körper schimmern in verschiedenen Farben des Regenbogens, der eine trägt die Brust grün-gelb, der andere seine rot-violett. Das Gemälde ist ein Bekenntnis zur expressiven Kraft der Farbtöpfe. Aber nur wenige Jahre später taucht der Künstler seine Leinwände in trübe Erdfarben, aus denen er dann noch etwas später regelrechte Matschbilder entwickelt: Schwämme und Schlacke, Dreck und Schmetterlingsflügel ersetzen ihm die gängigen Pigmentmischungen. Auch diese radikale Naturkunst langweilt ihn irgendwann. Aus den entleerten Landschaften werden wuselige Stadtansichten, gesehen von oben. Nach der Ödnis kommt die Reizüberflutung.

Woraufhin Dubuffet seinen Stil radikal reduziert. In den Siebzigern begeistert er sich für schwarze Konturen und wechselt zur Skulptur. Sein Panorama "Coucou Bazar" besteht aus zahlreichen überzeichneten, schwarz geränderten Skulpturen in Weiß, Rot und Blau. Sie bilden ein gigantisches Theater, das leider mit wenigen Ausnahmen nicht mehr von Schauspielern aktiviert werden darf. Die bloße Anzahl der Figuren, es sind 60, rückt die Besucher im Saal der Fondation an den Rand. Der Mensch wird zur Minderheit vor diesen zähnefletschenden Außerirdischen. Ohne sie hätten jüngere Künstler wie Jean-Michel Basquiat und Keith Haring nie zu ihrer Form gefunden.

So imitiert Dubuffet keineswegs die Kunst der Kranken. Er holt sich bei seiner Schrankvisite in Heidelberg nur die Lizenz zur größtmöglichen gestalterischen Freiheit (und ignoriert dabei, welchen inneren Qualen die Schöpfer der echten Art Brut ausgesetzt waren). Das aber tut der Kunst gut: Mut zur Veränderung und ein Bruch mit selbstgeschaffenen Sehgewohnheiten.

Jean Dubuffet in der Fondation Beyeler in Riehen/ Basel, bis 8. Mai. Info: www.fondationbeyeler.ch, Katalog: 58 Euro. Dubuffets Liste in der Sammlung Prinzhorn in Heidelberg, bis 10. April. Info: prinzhorn.ukl-hd.de, Katalog: 29,90 Euro.

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Quelle:
SZ vom 18.02.2016
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