Süddeutsche Zeitung

Kunst:Erlösung

Die spektakuläre politische Kunst erlebt eine neue Blütezeit. Kein Wunder bei der finsteren Weltlage. Das aber hat Folgen für das Publikum, das so im Katastrophenmodus gefangen bleibt.

Von Kia Vahland

Die Realität ist noch nicht schlimm genug. Also muss eine Katastrophe her, die alles überstrahlt: Tiger sollen eingeflogene Flüchtlinge fressen. Das würde zeigen, wie verkommen das Land ist, befand das Zentrum für politische Schönheit, das der dahintersteckende Aktionskünstler Philipp Ruch "das moralische Heizwerk der Republik" nennt. Es kam nicht so weit, das Flugzeug mit den Flüchtlingen durfte nicht abheben, die Tiger in Berlin blieben hungrig, und das Heizwerk hat wieder einmal für heiße Luft gesorgt. Die kann den öffentlichen Raum stickig werden lassen. Eingeheizt wird hier nicht der Politik, sondern dem Publikum, mit Aktionen, welche die auch schon rabiaten Auftritte der Tierschutzvereinigung Peta wie einen Streichelzoo wirken lassen.

Misst man den Erfolg von Kunst an der erreichten Aufmerksamkeit, dann übertrifft das Zentrum für politische Schönheit hierzulande Gerhard Richter, Banksy und so ziemlich alle anderen lebenden Künstler mit Ausnahme von Ai Weiwei. Und der liebt ebenfalls drastische Inszenierungen, wenn er sich etwa in die Pose des vor der türkischen Küste ertrunkenen Flüchtlingsjungen an einen Mittelmeerstrand legt.

Die Dadaisten wollten den Kanon zertrümmern und ein weltoffenes Europa gestalten

Der häufigste Vorwurf an Aktionskünstler wie Ruch und Ai lautet: Die tun so moralisch, dabei geht es ihnen nur um ihre eigene Geltung. Um Geltung aber geht es öffentlichen Personen meistens, seien sie Politiker, Sportler oder eben Künstler.

Was also, wenn die Sache komplizierter ist. Wenn die Politkünstler so moralisch tun, weil wir, die Zuschauerinnen und Zuschauer, dies so wollen. Und ihnen deswegen zugucken, zuhören, uns an- oder aufregen lassen. Wir, die vor lauter Unglücksnachrichten sowieso schon im Katastrophenmodus sind, gieren möglicherweise auch in der Kunst nicht nach Abregung, Reflexion, Besonnenheit und Aufklärung, sondern nach größtmöglicher Steigerung unserer bereits von der Realität aufgewirbelten Gefühle. Angesichts der Eilmeldungen von terroristischen Anschlägen und sinkenden Flüchtlingsbooten, Putschversuchen und Demokratieverlusten kann man sich mit Grund ohnmächtig fühlen. Abhilfe versprechen die Aktionskünstler: Wir tun etwas. Das Richtige. Wir retten das Abendland, die Humanität, was auch immer. Und wenn es nur der Münchner Wohnraum ist, für den Matthias Lilienthal von den Kammerspielen kürzlich mit Shabbyshabby-Apartments sorgen wollte, mit Bretterverschlägen unter Brücken und an Brunnen für 35 Euro die Nacht.

Die Aktivisten handeln an unserer statt, oder tun zumindest so als ob. So entlasten sie uns, befreien uns mit ihrem tönenden Symbolismus von der Notwendigkeit, politisch zielführend zu agieren. Das gelingt ihnen umso besser, je mehr sie wie Philipp Ruch von "verbrannten Hoffnungen" und "moralischer Schönheit" reden, je öfter sie wie Ai Weiwei den Stinkefinger vor die Handykamera recken und je zugiger und pittoresker Lilienthals Bruchbuden sind. All das wird den Flüchtlingen nicht helfen, die Wohnungsnot nicht lindern, Attentäter nicht stoppen und die Welt nicht besser machen.

Es dient nur dem allgemeinen Wohlgefühl. Damit widersprechen diese Interventionen nicht dem gegenwärtigen Zustand des Kapitalismus, sondern sie entsprechen ihm. Die Macher bieten Servicekunst, sie verkaufen ein gutes Gewissen so wie die Teebeutelhersteller, die ihre Produkte mit aufgedruckten Lebensweisheiten an die Leute bringen. Ein derart beruhigtes Publikum mag sich die Mühen der Einmischung sparen. Eine Vernissage ist vergnüglicher als eine Ortsvereinssitzung, ein Theaterabend ist auch in seinen krassesten Ausformungen immer noch leichter zu ertragen als der Flüchtlingsjunge, den man zu Hause aufnimmt, und der dann trotzdem seinen Weg nicht findet.

In dem 2015 erschienenen Buch "Die bezifferte Welt. Wie die Logik der Finanzmärkte das Wissen bedroht" beschreibt der Politologe Colin Crouch, wie in allen Lebensbereichen aus Bürgern Kunden werden und was das anrichtet. Polizisten etwa, die Erfolgsstatistiken vorweisen müssen, haben sich laut Crouch in nordenglischen Städten auf die Prävention von Wohnungseinbrüchen konzentriert und darüber die Missbrauchsfälle in Kinderheimen vernachlässigt. Im Sinne einer Kundenorientierung war das zielführend, weil es die vielen Hausbesitzer beruhigte - fatal aber erscheint es im Sinne einer funktionierenden Bürgerschaft, die an all ihre Mitglieder denken muss. Crouch beobachtet, wie eine solche Dienstleisterlogik sich auch an Schulen, in Krankenhäusern, in Behörden durchsetzt, sodass die sachbezogene Logik der dortigen Fachleute immer weniger zählt.

Ergänzen ließe sich: Auch auf kultureller Bühne verdrängen die Kunden die Bürger. Mit ihrem Katastrophismus degradieren die Aktionskünstler ihre Rezipienten zu Politkonsumenten, die mit der Währung Aufmerksamkeit zahlen. Dafür bekommen diese gute Gefühle, ein bisschen Theater, nicht aber reale politische Anteilnahme. Die nämlich setzt Anstrengung und Wissbegierde voraus. Beides gehört klassischerweise zum Repertoire der Künste, die spätestens seit der Aufklärung auf die Selbstermächtigung mündiger Bürger zielen. Selbst die Dadaisten haben nicht nur den alten Kunstkanon zertrümmert, sondern wollten auch ein weltoffenes Europa gestalten. Dafür brauchte es eine komplett neue Formensprache, alltagstaugliche Dada-Collagen aus Fotografien, Zeitungsschnipseln, Lebensresten.

Formal sind die Aktivisten von heute eher langweilig. Das Zentrum für politische Schönheit kopiert auf seiner Website Werbekampagnen von Markenartikeln, Ai ahmt die Minimal Art nach, und der spanische Politkünstler Santiago Sierra hängt der Reduktion der frühen Abstraktion an, wenn er bemitleidenswerte Tagelöhner in Reih und Glied aufstellt und ihnen einen Strich über die Rücken tätowieren lässt. Der Schock entsteht nicht, wie bei vielen Avantgarden des frühen 20. Jahrhunderts, durch einen Bruch mit bekannten Formen und Konventionen. Er entsteht zumindest bei Sierra und Ruch durch einen Bruch mit zivilisatorischen Übereinkünften: Sie ergeben sich dem sensationsheißen Zynismus, lassen sowieso schon drangsalierte Menschen einsperren und angeblich fressen.

Das tönt laut, was vor allem schade ist für ernsthaft politisch interessierte Künstler. Sie wirken auf Bühnen, in der Literatur und der Kunst: Menschen, die wachen Auges die Welt beobachten, sie für uns darstellen und mit uns interpretieren.

In Kunstausstellungen bilden sie inzwischen die Mehrheit, und ihre Stile sind vielfältig. Es gibt die historischen Erzähler wie den Ägypter Wael Shawky, der aus den Kreuzzügen ein Marionettenspiel macht, oder die Afroamerikanerin Kara Walker, die in Scherenschnitten die Brutalität der Sklaverei umkreist. Es gibt die Interaktiven, die Opfern von Kriegen eine Stimme geben, anstatt sie zu missbrauchen. So bat die Bosnierin Maja Bajević im Jahr 1999 Frauen aus Sarajevo, auf einem Baugerüst vor dem dortigen Museum ihre Wunschmotive in die Abdeckplanen zu weben. Es gibt die Investigativen, die geschlossene Systeme auskundschaften, wie den großen Filmkünstler Harun Farocki, der sein Publikum in die Ego-Shooter-Trainingscenter der US-Armee führte, oder die Amerikanerin Taryn Simon, die Überwachungsorte des CIA dokumentierte. Es gibt die Experimentellen wie Pamela Rosenkranz, die auf der Venedigbiennale einen Pavillon mit fragwürdigen Kosmetikchemikalien füllte. Und es gibt die Dokumentare wie den Libanesen Rabih Mroué, der die letzten Handyfilme Erschossener sammelte; oder afrikanische Fotografen wie den Senegalesen Boubacar Touré Mandémory, die uns in Tagesschau-ferne Gegenden mitnehmen.

Sie und viele andere überraschen ihr Publikum, informieren und fordern es, anstatt uns erst aufzuputschen und dann, ermattet, alleinzulassen. Eine solche subtile Gegenwartskunst kennt keine einfachen Lösungen, weiß nicht alles besser. Gerade deshalb macht sie über die Kunst hinaus handlungsfähig. Die Welt ist zu schön und die Lage zu ernst, um sie ein paar hitzigen Tigerdompteuren zu überlassen.

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Quelle:
SZ vom 30.07.2016
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